Als Kaufland vor zweieinhalb Jahren seinen Lieferdienst für frische Lebensmittel in Berlin startete, hing die komplette Stadt voller Plakate, auf denen freundlich lächelnde Lieferfahrer abgebildet waren, die große Tüten mit frischem Gemüse, Obst, Saft, Brot, Nudeln, Tomatensoße und Wein an Haustüren ablieferten. Daneben stand über der gut sichtbaren Shop-Adresse:
„Kaufland bringt’s. Unser Lieferservice.“
Ganze Häuserwände ließ die Handelskette mit ihrem neuen Service bemalen, inklusive des ebenso einfachen wie verheißungsvollen Versprechens:
„Sofa statt Kassenschlange.“
Innerhalb weniger Wochen gehörten die weißen Lieferfahrzeuge des Unternehmens zum festen Bestandteil des Stadtbilds; laut „Heilbronner Stimme“ wurden schon nach kurzer Zeit „bei der durchschnittlichen Größe der Bestellungen […] in Berlin die eigenen Erwartungen übertroffen“. Die Werbemaßnahmen wurden wieder reduziert, weil der Service schnell ausgelastet war. Das hat Kaufland nicht davon abgehalten, ihm im Dezember 2017 – vermutlich aus strategischen Gründen – schon wieder den Stecker zu ziehen.
Ein gutes Jahr später hängen in der Stadt wieder Plakate, die die Berliner für einen neuen Lieferservice begeistern wollen, der ihnen frische Lebensmittel an die Haustür bringt.
Aber jede Wette: An die Auslastungsgrenze wird Getnow (so heißt der Anbieter) dadurch so schnell gewiss nicht kommen. Eher schon in die Top 5 der verunglücktesten Werbekampagnen des Jahres.
Ein deutsches Instacart?
Gegründet wurde das Unternehmen bereits 2015 und gehört vermutlich zu keinem der großen deutschen Handelskonzerne; ganz genau lässt sich das aber nicht sagen. Welche Investoren den Aufbau finanzieren, mag das Start-up derzeit nicht sagen. Der „Lebensmittel Zeitung“ erklärte Getnow-Geschäftsführer Sebastian Wiese kürzlich, man verfüge „über Investoren, die längerfristig orientiert sind“ (Paywall). Seinen Kunden liefert das Unternehmen Lebensmittel, die über die eigene Online-Plattform bestellt und anschließend von Getnow-Mitarbeitern beim Großhändler Metro eingekauft werden. Die Zustellung übernimmt DHL, in der Regel noch am selben Tag (für 3,99 Euro bzw. 6,99 innerhalb von 90 Minuten). Wer für 40 Euro bestellt, zahlt keine Versandkosten. Allerdings werden die Produkte, wie bei vielen Direktlieferdiensten, mit einem Aufschlag auf den regulären Ladenpreis verkauft. Nachtrag: Ein Sprecher erklärt, dass man bereits „seit Längerem auf einen Preisaufschlag verzichtet“, möchte aber auf Nachfrage nicht sagen, seit wann genau.
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Zuletzt hat Getnow im Monatstakt Führungspersonal ausgetauscht und angekündigt, in neue Regionen expandieren zu wollen; derzeit ist der Dienst in Berlin, Frankfurt, München und Neuss aktiv. Außerdem gibt es die erklärte Absicht, mit weiteren Händlern zu kooperieren. Damit würde Getnow dem amerikanischen Vorbild Instacart ähnlicher. Im Gegensatz zu den Amerikanern hat Getnow allerdings das Problem, in Deutschland auf einen sehr viel stärker regulierten Arbeitsmarkt zu treffen, argumentierte E-Commerce-Auskenner Udo Kießlich kürzlich im Kassenzone-Podcast mit verhaltener Skepsis.
Alles Wichtige im Kleingedruckten
Darüber hinaus muss das Start-up aber erstmal mit sehr viel grundlegenderen Problemen umzugehen lernen – und seinen potenziellen Kunden halbwegs plausibel erklären, was es überhaupt kann. In der aktuellen Kampagne, mit der Getnow in seinen Liefergebieten bekannter werden will, geht das ziemlich schief.
„Du willst es für lau? Kauf’ bei getnow“,
steht in großer Schrift auf Plakaten, die aus der Ferne betrachtet keinerlei Hinweis darauf geben, dass es sich bei dem flotten Spruch um eine Empfehlung handelt, seine frischen Lebensmittel online zu bestellen.
Eine Illustration, die dabei helfen könnte (Tüte mit frischem Gemüse, Obst, Saft, Brot, Nudeln, Tomatensoße und Wein?), gibt es nicht. Wer in der Tram an einem der Plakate vorbeifährt, weiß weder, wer der merkwürdige klein geschrieben Absender ist, noch, was der eigentlich konkret anbietet. Damit der Reim funktioniert, steht nicht mal die Top-Level-Domain hinter dem Namen.
Nur wer sich aus unerfindlichen Gründen dazu entschließt, näher zu treten, darf sich über zusätzliche Informationen freuen: „Jetzt Lebensmittel online kaufen“ steht auf einem kleinen roten Button in der rechten unteren Plakatecke.
Und auf der gegenüberliegenden Seite freundlicherweise auch die vollständige Adresse getnow.com (warum nicht einfach .de, bleibt das Geheimnis der Gründer; funktioniert als Weiterleitung auf die .com-Adresse aber ebenfalls).
Wer seine Brille auf hat, liest in noch etwas kleiner Schrift in einer Sprechblase, was Getnow alles so kann; z.B.:
„Frische METRO Lebensmittel jetzt auch für Privatkunden
Flexible Lieferzeiten
Ohne Mindestbestellwert
15% Rabatt auf den ersten Einkauf“
Von wegen „für lau“
Das setzt nicht nur voraus, dass ganz normale potenzielle Kunden, die bislang nicht im Großhandel eingekauft haben, wissen, was genau „METRO Lebensmittel“ sind. Es lässt auch offen, was es eigentlich mit dem zentralen Versprechen auf sich hat, nämlich etwas „für lau“ (= „unentgeltlich“) zu kriegen. Der Einkauf ist’s (trotz des Rabatts) nicht; gemeint sind vermutlich die Versandkosten, die aber erst ab 40 Euro entfallen. (Korrekt wäre also: „Du willst es für lau? Kauf’ mindestens für 40 Euro bei getnow“.)
Damit hätte man ganz konkret werben können, weil das ein konkreter Unterschied zu den Lieferdiensten von Rewe, Bringemeister und Amazon Fresh ist: Frische Lebensmittel an die Haustür – schon ab 40 Euro Bestellwert versandkostenfrei! Passiert aber nicht. Und einen ganz entscheidenden Vorteil des Diensts – die Lieferung innerhalb von 90 Minuten ab Bestellung! – lässt Getnow gleich ganz weg.
Es gibt noch ein anderes, ähnlich rätselhaftes Motiv:
„Stehst du im Stau? Geh’ zu getnow“
Nice advertisement by @GetnowNew in #Frankfurt's S-Bahn#startup #groceries #ecommerce pic.twitter.com/549QbfVA5C
— Startuprad.io (@startuprad_io) February 12, 2019
Wieder steht der konkrete Hinweis auf die Lebensmittel-Bestellung nur unten im Kleingedruckten; es gibt kein Bild, das wenigstens eine direkte Assoziation herstellen könnte. Noch dazu ist die Formulierung „geh zu getnow“ maximal irreführend. Das Besondere an dem beworbenen Dienst ist doch gerade, dass man nirgends hingehen muss, sondern zuhause blieben kann, um dort seinen Einkauf in Empfang zu nehmen!
Wie man eine Kampagne für einen neuen Online-Supermarkt im Jahr 2019 noch so verkorksen kann, vor allem wenn man sich die Grundprinzipien einfach bei einem Wettbewerber hätte abgucken können, der mit seinem Markteintritt schon sehr erfolgreich war und danach freundlicherweise Platz für neue Konkurrenten gemacht hat, ist mir völlig schleierhaft.
Insbesondere, weil Getnow kürzlich erklärte, von einer international agierenden „Kommunikationsagentur“ „optimal unterstützt“ zu werden (Eigenwerbung: „Kreativität ist unser Metier“), und mit dem Chief Marketing Officer Thorsten Eder eigentlich einen Mann an Bord hat, der als ehemaliger Marketingchef von Saturn wissen müsste, wie erfolgreiche Werbekampagnen funktionieren.
Getnow im großen Hummus-Test
Über den eigentlichen Service ist damit freilich noch nichts gesagt; aber der von mir in einem aufwändigen Verfahren entwickelte so genannte Hummus-Test für Online-Lebensmittel-Shops lässt zumindest einen ersten Rückschluss auf die generelle Leistungsfähigkeit zu. Er geht so: Ich gebe den inzwischen zum Standardsortiment gut sortierter Handelsketten gehörenden Artikel „Hummus“ ins Produktsuchfeld des Shops ein, drücke Return und schau, was passiert.
Die Getnow-Shop-Version aus dem vergangenen Jahr ging davon aus, dass ich mich vertippt hatte, bot mir deshalb alternativ u.a. „Hummer gekocht im Eisblock 375g“ und „Frolic Hundefutter Rind 1,5kg“ an.
Inzwischen ist die Suchfunktion überarbeitet worden und zeigt aus der „exklusive[n] getnow Auswahl von mehr als 15.000 Qualitätsprodukten aus dem deutschlandweit bewährten und beliebten Extra-Frische- und Vielfalt-Sortiment“ von Metro – gar kein Ergebnis mehr an. Hummus-Test leider nicht bestanden.
Bis zum deutschen Instacart ist es für Getnow noch ein langer, langer, langer, langer, langer Weg. Oder, um im Bild zu bleiben: Gar nicht so schlau? Wirb wie Getnow!
Fotos: Supermarktblog
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Der Beitrag Aus der Zauber: Lidl zieht Schlussstrich unter sein Kochboxen-Experiment erschien zuerst auf Supermarktblog.