Sollten sich am Tag des jüngsten Gerichts auch Jahre dafür verantworten müssen, was sie in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit alles haben durchgehen lassen, wird das für 2020 keine einfache Situation.
Gut, es gibt Karmapunkte dafür, dem kontaktlosen Bezahlen im Supermarkt endgültig den Weg geebnet und Selbstscan-Initiativen angeschoben zu haben. Davon abgesehen dürfte 2020 aber eher als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem der Einkauf von Lebensmitteln komplizierter geworden ist als er bis dahin war. (Alle anderen Vergehen können an dieser Stelle aufgrund der thematischen Fokussierung dieses Blogs glücklicherweise ausgeblendet werden.)
Zahlreiche Provisorien wurden im Laufe der Monate entweder nachhaltig festgeschraubt oder durch langfristige Installationen ersetzt. Und mit voran schreitender Zeit kommt die Einsicht: Das bleibt jetzt erstmal so, oder?
Einlass-Systeme
„Für Ihre Gesundheit: In dieser Filiale sind max. 47 Personen zulässig. Bitte halten Sie Abstand“,
steht auf dem Aufsteller, der vor der Rossmann-Filiale sogar das Plakat verdrängt hat, das sonst für den neusten Schmöker des Unternehmensgründers wirbt. Die Lage muss also wirklich ernst sein.
Dabei gehen die Handelsketten sehr unterschiedlich mit den Zutrittsbeschränkungen um, die derzeit wieder gelten, um die Abstandsregeln beim Einkaufen einhalten zu können. Die Pflicht, einen der abgezählten Einkaufswagen oder -körbe mitzuführen, scheint zur Kontrolle immer noch am weitesten verbreitet.
Manche Unternehmen haben elektronische Einlasssysteme installiert, die Kund:innen per Ampel mitteilen, ob erst abgewartet werden muss, bis jemand anderes seinen Kohlrabi hinter der Kasse verstaut hat. Aldi Süd meldete im Frühjahr, etwa die Hälfte seiner fast 2.000 deutschen Filialen entsprechend ausstatten zu wollen. (Wenn die zugelassene Höchstzahl überschritten wird, brummelt auf dem Smartphone des Markpersonals die dazugehörige App.)
Das hilft aber natürlich auch nicht dagegen, dass sich die korrekt eingelassene Kundschaft anschließend doch wieder vor denselben drei Regalen drängelt. Manchmal verschwinden die Ampel-Bildschirme auch gut getarnt im Ladenambiente.
Manche Kaufleute markieren sich ersatzweise eine Art Verkehrsübungsplatz in den Eingang ihrer Märkte: mit Laufrichtungsanzeige, Überholverbot und Abbiegeassistenz. Das ist sicher gut gemeint, wirkt im Zweifel eher irritierend als orientierend, setzt aber immerhin (noch) nicht den Erwerb eines Einkaufsführerscheins voraus.
Hygienestationen
Bis Weihnachten wollen Lidl und Kaufland sämtliche ihrer Filialen mit „Hygienestationen“ ausgestattet haben, welche am Eingang Tücher und Desinfektionsmittel spenden, damit Hände und Einkaufswagen gereinigt werden können. Das ist eine gute Idee.

Die Erfahrung aus dem Frühjahr, als entsprechende Stationen bereits mit aufgeklappten Abfallkörben improvisiert und teilweise sogar zur Bedienung bemannt bzw. befraut wurden, hat jedoch die Achillesferse des Konzepts demonstriert: Die Spender müssen nachgefüllt und ab und an selbst gereinigt werden. Was mit voranschreitender Gewöhnung an die Gesamtsituation beim ohnehin ausgelasteten Personal schnell in Vergessenheit geriet bzw. aufgrund von Einsparambitionen in der Konzernpriorität weiter nach hinten rückte. Unhygienstationen braucht beim Einkauf allerdings niemand.
Einkaufswagen-Duschen

Hersteller von Einkaufswagen-Waschanlagen witterten in diesem Jahr einen günstigen Moment, um ihr Geschäft deutlich auszuweiten. Bis sich bei den Kaufleuten die Erkenntnuis einstellte, dass Kund:innen es gar nicht so gut finden, klitschnasse Einkaufswagen aus der „Easy Clean Box“ zu ziehen. Die ja auch wieder gewartet werden will, wenn nicht die meiste Zeit ein knallroter Störzettel dranhängen soll: Techniker ist informiert.
Als Zwischenlösung funktionieren mobile Waschstraßen, die von Laden zu Laden touren, um Einkaufswagenparks grundzureinigen, bevor die Kundschaft wieder ran darf. Das sieht aber vermutlich origineller aus als es tatsächlich von langfristigem Nutzen ist.

Geht aber auch ganz anders: Der belgische Händler Colruyt hat sich für die Sicherheit seiner Kund:innen richtig in Unkosten gestürzt und versprochen, jeder bzw. jedem ein Paar Plastikgriffe zu schenken, die zur Hygienegewährleistung an den Wagen drangeclippt werden können. Juchu, noch was, das wir jetzt beim Einkaufen vergessen können mitzunehmen!
Absperrbarrieren
Mir persönlich sind bislang keine bestätigten Berichte über an der Bedientheke im Serrano-Schinken verunfallte Kund:innen im Lebensmitteleinzelhandel bekannt – aber Kaufland provoziert ja förmlich, dass es noch so weit kommt. Damit sich Mund-Nasenschutz-verhüllte Frischekäufer:innen nicht aufdringlich in die Auslage hineinlehnen, hat der Großflächendiscounter vor derselben Barrieren errichtet – aus Lebensmitteln, natürlich.

Wer nach einem frischen Kotelett strebt, ist aufgefordert, sich dafür über den zweireihig auf Paletten gestapelten K-Favourites Eigenmarken-Jamón zu beugen (bestenfalls ohne am Tragegriff hängen zu bleiben); und der Käseaufschnitt erfolgt hinter einer kniehohen Wand aus Lebkuchen, in deren Sperrzone die distanzlose Kundschaft natürlich trotzdem hineinlatscht.
Das ist auch jahreszeitenbedingt vielleicht noch nicht die ideale Möglichkeit, Abstrandsregeln an der Bedientheke für die kommenden Monate zu befolgen (außer es kommt noch wer auf die Idee, die Rosenkohlsaison zu verlängern). Für das mit großem Hoppeln nahende Ostern ist aber sicher bereits das nächste verzehrbare Sperrgut geordert.

Einbahnstraßen
Am deutlichsten hat Corona die ohnehin im Ladenbau zahlreicher Handelsketten vorhandenen Schwächen offenbart. Um zu viel Gegenverkehr in seinen Märkten zu vermeiden, hat Tesco in Großbritannien in der ersten Jahreshälfte schmale Gänge vorübergehend zu Einbahnstraßen erklärt („one-way aisles“). Hierzulande steht Rossmann dem in nichts nach – und setzt noch einen drauf.
„Bitte nur 2 Kunden gleichzeitig in diesem Gang DANKE“,
steht auf einem ausgedruckten DIN-A-4-Zettel, der mit Flatterband an einem mit Waren beladenen Rollbehälter befestigt wurde, als handele es sich um einen Tatort. Dabei sind die Kund:innen nur ein Teil des Problems. Der Nachteil des inzwischen umfangreichen Rossmann- Bio-Lebensmittelsortiments ist nämlich, dass unzählige verschiedene Artikel in die Regale gestopft sind, die ständig weggekauft sind und das Personal permanent nachräumen lassen muss. Zu diesem Zweck steht die eine Hälfte des Gangs voll mit Waren in weiteren Rollbehältern.
Als Händler könnte man aus diesem Problem schließen, dass der Hauptlauf zur Kasse schlicht und einfach zu eng ist – und umgebaut werden sollte. Oder man macht’s wie Rossmann und lässt die Marktleitung DIN-A-4-Zettel ausdrucken. Auf der gegenüberliegenden Seite ist selbstverständlich:
„STOP! Kein Durchgang“
So kauft man doch gerne ein.
Unter den Discountern sorgt Lidl gerade dafür, sich ein ähnliches Problem in die Märkte zu holen. Modernisierte Filialen erhalten eine neue Regalanordnung, bei der sich die Obst- und Gemüseabteilung nicht mehr vom Eingang gerade in den Laden hineinsteckt, sondern kurz vor der vorgezogenen Snack-Kühltheke einen 90-Grad-Knick macht (siehe Supermarktblog). So entsteht ein Nadelöhr, durch das alle Kund:innen, die sich sonst über zwei Gänge verteilen konnten, auf ihrem Weg durch den Laden durchmüssen.
Das ist nicht nur maximal unpraktisch, sondern wirklich eine richtig dumme Idee zu Pandemiezeiten, in denen jeder Quadratmeter Platz den Einkaufskomfort stark steigen lässt.

Kassenkapseln
Während mancherorts weiter Plexiglastrenner von der Decke schwingen und wackelige Trenner notdürftig vor die Kassen gekippt wurden, investieren einige Unternehmen – zumindest an ausgewählten Standorten – in die Langfristigkeit der Schutzmaßnahmen. Lidl installiert raumkapselhaft wirkende Plexiglaskabinen, deren mittige Ausfräsung nicht als Niesdurchlass für Kinder gedacht ist, sondern natürlich, damkit die Kundschaft ihre digitale Lidl-Plus-Kundenkarte scannen kann.
Ähnlich langfristig wirken die Installationen bei dm, wo aufgrund der offenen Gestaltung der Kassenzone zusätzliche Trennwände angeschafft wurden. Kürzlich hat das Unternehmen bekannt gegeben, wieviel man sich das hat kosten lassen: „mehr als sechs Millionen Euro“ nämlich, um „die Kassenbereiche aller dm-Märkte in Deutschland mit großzügigen Schutzvorrichtungen“ auszustatten. (Die bei dm übrigens „Einhausung“ heißen.)
In Großbritannien, wo sich Kund:innen sehr viel häufiger selbst abkassieren, platziert The Co-op z.B. derweil in seinen Märkten Trenner zwischen sämtlichen SB-Kassen. Mal sehen, wie sich die verstärkte Privatsphäre beim Snack-Erwerb auf den Warenschwund auswirkt.
Was bringt 2021?
Welche Ideen kommen als nächstes, womöglich Impfungen in ausrangierten Discount-Märkten? Ja, genau. Die stehen nämlich vielerorts nicht nur leer, sondern in einigen Landkreisen auch auf der Liste als „Impfzentren“: u.a. in Fürstenfeldbruck, Göppingen, Leipzig, Borna und Pirna (jeweils ehemalige Aldi-Märkte), Oldenburg, Lahnstein, Wildeshausen (Ex-Lidls) sowie Chemnitz (ehemals Netto ohne Hund). Dort kann sich die Kundschaft bereits auf ein Wiedersehen mit bekannten Elementen aus den zuvor beschriebenen Einkaufs-Parcours freuen: Einbahnstraßen soll’s nämlich auch in den improvisierten Impfzentren geben.
So. Und jetzt wollen Sie zum Schluss bestimmt noch ein bisschen mehr über Klopapier wissen, oder?
(Impfparanoia-Kommentare werden nicht freigeschaltet.)
Vielen Dank an Caroline und Jörg für die fotografische Korrespondenz!
Fotos: Supermarktblog- Einlass-Beschränkung, Kassenschutz, Grundbedarf-Boxen: Wie Corona den Einkauf im Supermarkt verändert
- Abstandhalter, Kontaktloszahlung, Bedienanleitungen: Corona und die neue Normalität in Supermärkten und Drogerien
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Der Beitrag Einbahnstraßen, Schinkenbarrieren, Wagenduschen: So hat Corona 2020 den Lebensmitteleinkauf verkompliziert erschien zuerst auf Supermarktblog.