Man kann sich die vergangenen Jahre im deutschen Lebensmittel-Discount wie eine Expedition vorstellen – eine Reise der Formatpioniere an die Ränder ihrer Welt, um zu ergründen, wie weit sie darüber hinaus gehen können, ohne runterzufallen. Mit moderneren Läden, erweiterten Sortimenten, neuen Services. Während Aldi Süd und Lidl sich punktuell weiter auf unerforschtes Terrain wagen (bzw. Wettbewerber wie Norma gar nicht erst aufgebrochen sind), ruft Aldi Nord sein Expeditions-Team gerade zurück nachhause: Genug geforscht, die Ergebnisse gefallen der Kernzielgruppe nicht.
„Eins muss man den Verantwortlichen bei Aldi Nord lassen: Wenn die sich einmal für etwas entschieden haben, dann bleibt das auch stehen – notfalls über Jahrzehnte“, stand vor vier Monaten an dieser Stelle im Blog über die weitgehend geräuschlos verlaufende Ausbreitung des „ANIKo“-Formats („Aldi Nord Instore-Konzept“).
Das war: ein Irrtum.
Längsregale sind wieder Standard
Kurz vor Weihnachten, zur Eröffnung der neuen „Verkaufsstelle Nummer 1“ in Essen-Schonnebeck um die Ecke des einst ersten Aldi-Markts, gab die Zentrale bekannt, eines der Grundprinzipien ihres modernisierten Ladendesigns endgültig abzuschaffen und wieder zur früheren Lösung zurückzukehren: Ab sofort werden sämtliche Sortimente in Aldi-Nord-Filialen wieder ausschließlich in Längsregale sortiert.
Bereits vor anderthalb Jahren hatte der Discounter die neuen Querregale zwischen den Flächen für Saisonware und Frische zurückgebaut. Nun trifft dieses Schicksal auch den „Marktplatz“ für Obst und Gemüse, der bis lang in zwei Querregalinseln vor der Kühltheke am Ladenende platziert war. Paprika, Gurken, Äpfel, Tomaten und Karotten müssen sich dort wieder längs einreihen. Dreieinhalb Jahre nach Beginn des Filialnetzumbaus ist die Rennstrecke von einem zum anderen Ende des Ladens wieder da.
In diesem Zuge fallen auch zahlreiche Regalenden – so genannte „Gondelköpfe“ – weg, an denen der Discounter bislang neue Artikel oder Aktionsware hervorgehoben hat.
Die Anpassungen seien dennoch „keine Abkehr von unserem Filialkonzept“, erklärt ein Aldi-Nord-Sprecher auf Supermarktblog-Anfrage, „sondern eine punktuelle Weiterentwicklung“. Der Fokus der modernisierten Märkte solle nach wie vor „auf einer hellen und freundlichen Einkaufsatmosphäre mit mehr Platz und breiteren Gängen sowie einem vergrößerten Angebot an frischem Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch und Backwaren“ liegen. Aber:
„Discount nach ALDI-Verständnis ist die Konzentration auf das Wesentliche und die Kunst des Weglassens. Immer vor der Frage, was für den Kunden sinnvoll ist, aber auch mit Blick auf die Arbeitsprozesse unserer Mitarbeiter.“
Insbesondere der Aufwand für die Regalpflege war mit der „ANIKo“-Einführung offensichtlich deutlich gestiegen – und mit ihm die Personalkosten. Dem versucht Aldi Nord entgegen zu arbeiten. An den verbleibenden Regalenden kann Ware künftig einfach auf Paletten abgestellt werden. Mit einer „nennenswerten Erweiterung der Angebotsfläche“ gehe das aber nicht einher, heißt es in Essen auf Anfrage.
Bestimmte Deckenelemente und Steckschilder seien reduziert oder ganz abgeschafft worden, Food- und Non-Food-Bereiche noch klarer voneinander getrennt. Die Non-Food Aktionsangebote – u.a. Kleidung, Werkzeuge oder Gartenartikel – seien künftig gebündelt in einem Gang zu finden.
„Das alles dient dem Zweck, den Einkauf für unsere Kundinnen und Kunden noch einfacher zu gestalten. Unsere Mitarbeiter profitieren von kürzen Wegstrecken im Markt und vereinfachten Arbeitsschritten beispielsweise beim Einräumen der Ware.“
Die Weiterentwicklung sei Konsequenz einer „umfassenden Analyse“ des hauseigenen „Data Analysis Competence Center“, in dem Kundenbefragungen und -verhalten ausgewertet sowie „prozessuale Erkenntnisse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ berücksichtigt worden seien.
Vor anderthalb Jahren hatte man die teilweise Abschaffung der Querregale damit begründet, es habe sich gezeigt,
„dass der Kundenfluss in Längsstellung der Regale noch besser und homogener verläuft. Zudem können unsere Kunden durch die einheitlichere Struktur noch besser navigieren.“
In einer neuen Mitteilung zur Filialeröffnung in Essen heißt es nun, man verbessere die Orientierung und mache den Einkauf „noch komfortabler und unkomplizierter als je zuvor“. Zusammengefasst heißt das wohl: Früher war alles besser.
Kein gutes Omen
Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil Mitbewerber – insbesondere im Discount – gerade in die entgegengesetzte Richtung steuern: Lidl baut Filialen derzeit (zumindest testweise) so um, dass sich Obst und Gemüse am Eingang L-förmig zusammenziehen lässt (siehe Supermarktblog). Dafür wird die bislang in Strandardfilialen übliche Rennstrecke aufgelöst. Und nach der österreichischen Tochter Hofer hatte zuletzt auch Aldi Süd eine stark modernisierte Anordnung eingeführt und frische Ware dafür erstmals in den vorderen Marktbereich gezogen (siehe Supermarktblog).
Dass der Norden nun einen anderen Weg einschlägt und sich auf Vergangenes zurückbesinnt, mag die Komplexität des Formats wieder ein Stück zurück drehen und Anhänger:innen des klassischen Discounts befrieden. Die Entscheidung, sich vorrangig den Gewohnheiten der bisherigen Kernzielgruppe zu ergeben, lässt sich aber auch problematisch sehen: Weil sie kein gutes Omen für die notwendige Weiterentwicklung des in die Jahre gekommenen Discount-Modells ist.
Hat diese bei Aldi Nord überhaupt eine Chance, wenn man schon daran scheitert, Kund:innen daran zu gewöhnen, dass Märkte nicht mehr funktionieren müssen wie vor zwanzig Jahren?
Ein Aldi-Sprecher bestätigt, dass tatsächlich sämtliche Aldi-Nord-Filialen auf das angepasste Design umgestellt werden:
„Märkte, die wir neu eröffnen, gestalten wir bereits im neuen Store-Layout – das gilt europaweit. Im Bestand ist der Aufwand überschaubar. In Filialen, die bereits auf ANIKo umgestellt sind, dauert die Anpassung meist einen Tag. Ein Großteil der rund 2.200 Märkte wird auf das neue Store Layout umgestellt. Wir denken, dass wir bis Q3/Q4 2021 damit fertig sein werden.“
Das Unternehmen versäumt damit vor allem die Chance, sein Ladenformat flexibler zu gestalten, ohne sich von der grundlegenden Standardisierung trennen zu müssen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich wirklich alle Aldi-Nord-Kund:innen in sämtlichen Märkten nach einer Rückkehr in die Vergangenheit sehnen; zumal die Querregalierung auf größeren Verkaufsflächen eher dabei half, das Obst- und Gemüse-Sortiment herauszuheben und besser zu präsentieren als das auf der Rennstrecke möglich ist.
(Noch dazu benötigt die neue alte Lösung in der „Verkaufsstelle Nummer 1“ in Essen-Schonnebeck eine dritte halbe Längsregalreihe, um dort Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch und Kräuter in vollem Umfang unterzubringen.)
Die Rückbesinnung auf die Schlichtheit des Discounts klingt vor allem dann plausibel, wenn man davon ausgeht, dass sich auch die Grundbedürfnisse der Kund:innen nicht ändern. Das könnte sich wiederum für Aldi Nord noch als bedauerlicher Irrtum erweisen. Der durch Corona wirtschaftlich unsicheren Zeit zum Trotz haben viele Deutsche in den vergangenen Monaten oftmals lieber im Supermarkt eingekauft, weil ihnen das dortige Angebot und Preisgefüge wichtiger zu sein schienen als das gleichzeitig veranstalte Preistheater der Discounter.
Kund:innen erwarten neue Angebote
Und in Großbritannien merkt Aldi (Süd) gerade, was es bedeutet, wesentliche Marktentwicklungen zu ignorieren, um sich vorrangig auf die ursprüngliche Stärke des Formats zu verlassen.
Der Dezember war nach Angaben der Marktforschung Katar der bislang umsatzstärkste Monat im britischen Lebensmitteleinzelhandel, auch Aldi hat seine Umsätze steigern können – gleichzeitig verlor der Discounter erstmals Marktanteile, weil zahlreiche Kund:innen auf die Lebensmitte-Lieferdienste der großen Anbieter ausweichen, um sich Bestellungen nachhause bringen zu lassen. Aldi UK versucht erstmals, mit einem neuen Click-&-Collect-Angebiot gegenzuhalten (siehe auch Supermarktblog).
Dass man sich in Deutschland Ähnliches trauen könnte, wirkt zunehmend unwahrscheinlicher, je fester man sich in Essen ans Früher klammert. Mal sehen, ob das hauseigene „Data Analysis Competence Center“ rechtzeitig bemerkt, dass es so auf Dauer schwer sein könnte, Kund:innen für sich zu gewinnen, die beim Einkauf nicht ausschließlich auf Niedrigstpreise schauen wollen.
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Der Beitrag Expedition ins Altbekannte: Was die Rückkehr der Rennstrecke für Aldi Nord bedeutet erschien zuerst auf Supermarktblog.