Kennen Sie das? Wenn Sie auf dem Weg zur Arbeit den Kopf schon voll haben mit Zeugs, das dringend erledigt werden müsste? Vielleicht sitzen Sie gedanklich schon in der nächsten Konferenz, vielleicht überlegen Sie, wie das Gespräch mit dem Chef laufen wird und kleben sich ein imaginäres Post-it von innen an die Schädelwand: “Nicht vergessen, die Kinder heute früher abzuholen.”
Wie durch ein Wunder sitzen Sie nachher aber trotzdem an Ihrem Schreibtisch (oder Ihrer Hobelbank, Ihrem Bankschalter, Ihrer Supermarktkasse usw.).
Ist das nicht seltsam, dass wir oft tatsächlich dort ankommen, wo wir hinwollen, ohne bewusst auf den Weg (geschweige denn rote Ampeln) geachtet zu haben?
Schuld ist der Autopilot, den die meisten Menschen eingebaut haben. Wir schaffen es, uns Wege, die wir immer wieder zurücklegen, so tief in unserem Unterbewusstsein abzuspeichern, dass wir uns nicht an jeder Ecke neu erinnern müssen, ob es links oder rechts langgeht. Im Supermarkt ist das genauso. (Deshalb bin ich seit kurzem auch so genervt, wenn ich zu Lidl einkaufen gehen.)
Eine korrektere Bezeichnung für den Autopiloten ist die “kognitive Karte”. Die funktioniert wie eine Art serienmäßig mit jedem menschlichen Hirn geliefertes Google Maps, zwar nur durch regelmäßige Wiederholung, dafür aber ohne separate Datenflatrate. In seinem Buch “The Art of Shopping” hat der britische Forscher Siemon Scamell-Katz, der seit vielen Jahren unser Einkaufsverhalten ergründet, aufgeschrieben, wie kognitive Karten im Supermarkt entstehen.
Scamell-Katz zufolge gehen wir im Supermarkt immer denselben Weg, um sicherzustellen, dass wir beim Einkauf regelmäßig benötigter Lebensmittel nichts vergessen. Wir erstellen anhand des Markts, den wir öfter besuchen, sozusagen einen inneren Einkaufszettel, den wir unterbewusst abarbeiten, weil wir wissen: nach Obst und Gemüse folgt Milch, dahinter Butter, dann Käse, Toastbroat usw.
Bei der Orientierung helfen so genannte “Wegweiserprodukte”: also Marken, die fast schon sinnbildlich für eine bestimmte Kategorie stehen, die wir sofort erkennen: Aha, da steht eine braune Flüssigkeit mit rotem Flaschenlabel, das muss Coca Cola sein – dann find ich hier Softdrinks.
Die Supermärkte können noch so viele Schilder aufhängen – die Leute lesen sie beim Einkaufen trotzdem nicht, hat Scamell-Katz in seinen Experimenten herausgefunden. Weil wir ja auf Autopilot funktionieren. Er schreibt:
“Shopping, however, is not reading. (…) When we’re grocery shopping we are following a learnt map around the store and using signpost brands to recognize categories.”
Genau deshalb ärgert mich Lidl gerade so: Weil “meine” Filiale es vor ein paar Wochen gewagt hat, ihr Sortiment fast vollständig umzuräumen. Der Saft steht jetzt gar nicht mehr in der ersten Längsreihe am Eingang, die Seife nicht mehr gegenüber von den Spülmaschinentabs und der Käse ist plötzlich in der falschen Kühltheke. Anders formuliert: Lidl hat meine kognitive Karte kaputt gemacht! Genau das ärgert uns als Kunden – ähm: schwarz. Weil der Autopilot im Supermarkt nichts anderes ist als eine Art Energiesparmaßnahme, die nicht mehr funktioniert, wenn wir plötzlich an eine völlig neue Anordnung lernen müssen.
Warum machen die Supermärkte dann so einen Unfug?
Weil sie einem alten Irrtum festhalten, meint Scamell-Katz: Wenn der Laden regelmäßig umgeräumt werde, seien die Kunden gezwungen, genau hinzuschauen und würden neue Produkte entdecken. Dabei geht der Forscher eher vom Gegenteil aus.
Sechs Monate dauere es, bis ein Kunde eine neue kognitive Karte “seines” Ladens angelegt habe. In dieser Zeit seien die meisten damit beschäftigt, die Sachen für ihren Standardeinkauf neu zusammenzusuchen, und hätten deshalb weniger Kapazität frei, um Aktionsprodukte zu kaufen, mit denen aber zusätzliche Einnahmen in die Kasse kämen:
“The brain’s ability to process information ist finite: if more attention is paid to navigating (…), there ist less capacity available to contemplate extra purchases.”
Supermärkte und Discounter schaden sich nach Scamell-Katz’ Erfahrungen mit den Umräumaktionen also vor allem selbst. Wobei fairerweise dazu gesagt werden muss, dass Lidl in diesem speziellen Fall noch etwas ganz anderes bezweckt.
Was das ist, steht aber erst im nächsten Blogeintrag. Bis dahin: schöne Grüße an Ihren Autopiloten!
Fotos: Supermarktblog