Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel funktioniert wie ein großes Karussell, das sich unablässig um sich selbst dreht – bis sich ganz plötzlich während der laufenden Fahrt die Richtung ändert und alles genau anders herum weiterläuft.
Vielleicht erinnern Sie sich: Über viele Jahre strengten sich die Discounter mächtig an, supermarktiger zu wirken, um jene Kund:innen (zurück) zu gewinnen, die sich für den Lebensmitteleinkauf in den Supermarkt verabschiedet hatten. Ein angenehmeres Ladenambiente und die Ausweitung des Sortiments mit bekannten Markenartikeln sowie veganen, biologisch erzeugten und Premium-Produkten waren die Grundpfeiler dieser Strategie – die während der Corona-Pandemie trotzdem nur bedingt aufgegangen ist, weil viele Konsument:innen trotzdem lieber dorthin gingen, wo’s mehr Auswahl und besondere Produkte fürs lange Zuhausebleiben gab.
Aber jetzt: Vollbremsung, die Inflation ist da!
Im April mussten die Deutschen 8,6 Prozent mehr für Nahrungsmittel ausgeben als im Vorjahresmonat. Um weiter „auf ihrem bisherigen Ausgabenniveau einkaufen zu können“ ist den Marktforscher:innen der GfK zufolge (PDF) ein „preisbewusstes Ausweichen“ notwendig geworden: klassische Markenartikel werden entweder öfter zu Aktionspreisen gekauft oder wieder stärker durch Eigenmarken der Händler ersetzt. Für letztere registrierte die GfK im März und April bereits ein Marktanteils-Plus von 1,3 Prozent (das seitdem noch weiter gestiegen sein dürfte). Anders formuliert:
„Die Discounter (…) sind (…) wieder in der Spur.“
Wirklich, wirklich günstig – ehrlich!
Genau das treibt nun wiederum die Supermärkte in die Verwandlung – zu Läden, in denen vieles ja genauso günstig ist wie im rivalisierenden Discount, wie nun unablässig erinnert werden muss.
Bei der notorisch unter Abwanderungsängsten leidenden Selbstständigenhilfegruppe Edeka hat man schon zu Beginn des Jahres damit angefangen, die eigene Niedrigpreiswürdigkeit hervorzuheben und schreckte in diesem Zusammenhang auch nicht davor zurück, die konzerneigenen Kolleg:innen von Netto (ohne Hund) per Plakatwerbung zu ärgern (siehe Supermarktblog).
Inzwischen hat man die Strategie deutlich ausgeweitet. In der aktuellen Kampagne erklärt der Verbund es für „Ungünstig“, „Beim Discounter keine Auswahl“ zu erhalten bzw. generell „Zum Sparen zum Discounter [zu] gehen“, um das eigene Kernversprechen hinterher zu schieben:
„In jedem Edeka steckt ein Discounter.“



Das bezieht sich freilich auf die durchaus stattliche Auswahl an Gut-&-Günstig-Eigenmarkenprodukten, die in der Regel exakt die Preise abbilden, die vergleichbare Artikel bei Aldi, Lidl & Co. kosten; es wirkt aber auch eher nervös als souverän. Zumal man sich bei Edeka offensichtlich gezwungen fühlte, noch eine Zusatzkampagne hinterher zu schieben, damit die Kund:innen dem Versprechen auch wirklich Glauben schenken.
Rewes ja! knabbert an Beste Wahl
„Sie wollen die Inflation vergessen: Achten Sie auf dieses Zeichen! Inflations-Stopp!“,
brüllen Plakate, die zahlreich in Edeka-Märkten (und ebenso bei Netto [ohne Hund])aufgehängt wurden, nach Aufmerksamkeit, um im Kleingedruckten zu ergänzen, dass die versprochene Neuregelung der eigenen Einkaufsverkehrsordnung erstmal nur bis Ende August für 200 im Preis stabilisierte Artikel gilt, und zwar: ausschließlich für Nutzer:innen der Deutschland-Card. (Worüber sich die Discountkonkurrenz prompt lustig machte.)
Rewe lässt es etwas weniger polterig angehen, hat aber bereits vor einigen Wochen eine eigene Werbekampagne für seine Discountpreis-Eigenmarke ja! gestartet, in der Beliebtheit und Qualität der Marke hervorgehoben werden („Seit 40 Jahren vom Leben getestet“); online zeigt man ja!-Verpackungsdesigns im Wandel der Zeit. Und das ist nicht nur deshalb interessant, weil ja! sich bereits seit über zwei Jahren in einem sich dahin schleppenden optischen Erneuerungsprozess befindet (siehe Supermarktblog).
Sondern auch deshalb, weil die Eigenmarke gerade Vorfahrt vor der Rewe-eigenen Mittelmarke Rewe Beste Wahl eingeräumt zu bekommen scheint.
„ja! darf und soll eine eigene Stellung in unserer Markenwelt haben, weil sie nah am Discount verortet ist. Wir agieren mit ja! sehr eigenständig“,
erklärte Clemens Bauer, Director Marketing & Media bei Rewe, kürzlich anlässlich des 40. Markengeburtstags.
Aufruhr im Aufbackbrötchen-Reich
Gegenüber der „Lebensmittel Zeitung“ (Abo-Text) hat Rewe bestätigt, die Zahl der im Sortiment verfügbaren ja!-Produkte von bislang 1.000 auf rund 1.100 gesteigert zu haben. Und zwar wohl im Wesentlichen, indem man Produkte von der Mittel- zur Discountmarke hat überlaufen lassen.
Die lange Zeit in weiß gekleideten Cookies American Style von Rewe Beste Wahl sind inzwischen, neu eingekleidet und mit leicht verschobener Zutatenliste, unter der günstiger positionierten Schwestermarke ja! erhältlich, die damit – sprichwörtlich – auf Augenhöhe im Regal neben dem Mittelpreissegment auftaucht (anstatt, wie bislang üblich, in niedrigeren Regalschienen).



Im von Beste Wahl dominierten Aufbackbrötchen-Reich haben sich die ja! Mehrkornbrötchen 560g dazwischen geschlichen – und zwar auf den Platz, der lange für Beste Wahl Mehrkornbrötchen 560g reserviert gewesen sein muss. Eine bis hin zu den Zusatzstoffen (E 412 und E 472e) identische Zutatenliste spricht dafür, dass es sich um ein und dasselbe Produkt handelt. Der bisherige Aktionspreis (1,19 Euro) ist nun der reguläre, was einer Vergünstigung von 20 Prozent entspricht.
Wo in der Tiefkühlung bislang Beste Wahl Gemüselasagne 400g („Nudelplatten mit gegrillter Paprika, gegrillten Auberginen, gegrillten Zucchini, Edamer und Emmentaler, tiefgefroren“) ein Zuhause fand, steht inzwischen ja! Lasagne Gemüse („Nudelplatten mit gegrillten Paprika, gegrillten Auberginen, gegrillten Zucchini, Edamer, Emmentaler und Hartkäse, tiefgefroren“), aber immer noch mit jeweils 3,8 Prozent gegrillten Auberginen und Zucchini sowie 7,5 Prozent gegrillter Paprika.
Camembert, wechsel dich!
Und beim Beste Wahl Back-Camembert mit Wild-Preiselbeer Dip 350g hat Rewe das Verpackungsdesign für die Umwandlung zur ja!-Variante nur ganz leicht verändert: Das Eigenmarken-Logo ist von der Mitte an die linke Seite gerückt, die Produktschrift eine andere, aber der abgebildete Käse quillt immer noch aus derselben Panade auf dem hellblauen Teller. Und während der „4 Stück“-Infostempel ein paar Zentimeter nach oben gerutscht ist, ging’s für den Preis nach unten: von 2,19 Euro (für Beste Wahl) auf 1,99 Euro (ja!).

Ob Rewe für die Absenkung mit den jeweiligen Herstellern neu verhandelt hat oder schlicht auf einen Teil der bisher etwas komfortabler kalkulierten Gewinnspanne verzichtet, ist unklar.
Klar ist hingegen, dass man sich durch den Markenwechsel ganz offensichtlich einen nachhaltigen Preiswahrnehmungseffekt auf die sensibler einkaufende Kundschaft zu versprechen scheint. Wobei es auch zur Wahrheit gehört, dass der Wechsel von einer Eigenmarke zur anderen auch vorher schon öfter praktiziert worden ist (ebenso in umgekehrte Richtung).
Zuletzt musste Rewes Mittelmarke bereits Grill-affine Artikel an die von Penny eingemeindete Marke Butcher’s abgeben (siehe Supermarktblog); auch die Rewe-eigene Universalmarke Vivess ist bei vielen Artikeln, z.B. im Schreibwarensegment (Briefumschläge, Versandtaschen), durch ja! ersetzt worden, das so nach und nach wieder mehr Gewicht in den Läden bekommt.
Lidl klagt gegen Tesco
Auch außerhalb der Sortimentsgestaltung nehmen die Anleihen von Supermärkten bei den Discount-Rivalen zu: In Großbritannien hat Marktführer Tesco entdeckt, dass es sich bei Produkten, die sehr häufig gekauft werden, lohnen kann, einfach die Regale weglassen, um gleich von der Palette oder aus großen Kartons zu verkaufen. Das spart Zeit und Personal. Einen entsprechenden Test hat Handelsexperte Bryan Roberts mit Bier, Cornflakes, Pasta und Toilettenpapier entdeckt.
(Deutsche Supermarktketten haben diesen Uralt-Discount-Trick selbstverständlich schon länger verinnerlicht.)
Gleichzeitig scheint die Billigkonkurrenz zunehmend nervös zu werden, dass die Supermärkte mit ihren Strategien erfolgreich sein könnten. Ebenfalls im Vereinigten Königreich hat Lidl gerade gegen Tesco geklagt, weil man dort für seine „Clubcard Prices“ (die im Wesentlichen versprechen, Artikel für Besitzer:innen der eigenen Kund:innenkarte genauso günstig wie Aldi und Lidl anzubieten) ein Logo verwendet, das vielen im Neu-Neckarsulm Bad Wimpfen sehr bekannt vorgekommen sein muss: einen gelben Kreis auf blauem Grund – wie beim Lidl-Logo, so ein Zufall!

Trittbrettfahrer sind immer die anderen
Was tatsächlich ein kleines bisschen dreist ist. Aber halt auch direkt aus dem Lidl-Strategiebuch für Markenkopien kommt, die den Originalen teilweise genauso unverschämt nachempfunden sind, um mit deren etablierten Designs bei der Kundschaft trittbrettzufahren.
Im Heimatmarkt hat sich Lidl sogar getraut, diesem Kopistentum eine eigene Werbekampagne zu widmen („Du hast die Wahl“, siehe Supermarktblog), in der Eigenmarken den Markenoriginalen gegenüber gestellt werden. (Wenn auch inzwischen eher solche, die nicht mehr ganz so deutlich Designs kopieren.)
Aber so ist das wohl in einem Markt, in dem abwechselnd jedes Handelsformat gerne (vorübergehend) wäre wie das andere, um sich ins Konsumgedächtnis der Kundschaft einzubrennen. Bis die wieder entscheidet, spontan die Richtung zu ändern und alles andersherum von vorne losgeht.
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Der Beitrag Rolle rückwärts: Edeka und Rewe wollen wieder stärker wie Aldi und Lidl sein erschien zuerst auf Supermarktblog.