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Wie Supermärkte wegen zunehmenden Diebstahls zur Festung werden

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In den allermeisten Fällen sind sie bloß eine kuriose Randnotiz in der Meldungsspalte der Lokalzeitung: Ein beim Keksklau erwischter Mann wird schon mit doppeltem Haftbefehl gesucht; ein an der Kasse auf eingesteckte Ware angesprochener Dieb läuft bei seiner Flucht gegen die Glasschiebetür; ein von der Polizei wegen Diebstahls durchsuchter Verdächtiger hat die Taschen voller Kokain. (So lauten zumindest einige der Höhepunkte aus Polizeilmeldungen in Berlin, Herne und Kassel, alleine in den vergangenen beiden Wochen.)

Viele Händler:innen wissen längst, welche ihrer Läden besonders anfällig für Diebstahl sind, und sie haben sich darauf eingestellt: Bestimmte Warengruppen wie Kaffee und Spirituosen sind mancherorts in Glasvitrinen verstaut, die auf Kund:innen-Anfrage explizit aufgeschlossen werden müssen.

Kaffee unter Verschluss: in besonders diebstahlanfälligen Läden wird Ware weggeschlossen; Foto: Smb

Ladendetektive sind nicht mehr (nur) in Kaufhäusern unterwegs, sondern auch in Supermärkten: Ein Edeka-Kaufmann aus dem Norden berichtet von 80 bis 90 Aufgriffen pro Monat, bei denen Diebstahl so verhindert würde.



Der Ladenbau eines Stores hat Einfluss auf viele Faktoren. Er ermöglicht eine attraktive Produktpräsentation, optimiert den Kundenfluss durch den Laden, unterstützt die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen und verstärkt die Markenidentität. Er sorgt für ein positives Einkaufserlebnis und lässt eine Marke langfristig in Erinnerung bleiben.

Um Märkte zu echten Shopping-Erlebniswelten zu machen, sind außer dem Design aber zunehmend auch Aspekte wie Flexibilität, Nachhaltigkeit und Technologie wichtig. Von smarten Backmöbeln über leicht umbaubare Regalsysteme bis zum modernen Self-Checkout: Hier gibt’s aktuelle Beispiele für einen rundum gelungenen Ladenbau. -->

Und einmal im Jahr ermittelt das EHI Retail Institute, in welchem Umfang Waren unbezahlt durch deutsche Supermarktkassen geschmuggelt werden.

Eine „Rückkehr zur Normalität“?

Doch Ladendiebstahl ist nicht bloß eine Lästigkeit, mit dem der Einzelhandel umzugehen gelernt hat, auch wenn die aktuelle EHI-Bilanz diesen Eindruck zu vermitteln scheint: Die Inventurdifferenzen bzw. die darin enthaltenen Diebstähle sind laut EHI-Hochrechnung 2022 zwar für den gesamten deutschen Einzelhandel um 12 bzw. 15 Prozent gestiegen. Jeder 200. Einkaufswagen im Handel blieb – statistisch gesehen – zuletzt unbezahlt. „[B]ei näherer Betrachtung“ sei das aber „eine Rückkehr zur Normalität früherer Jahre“:

„Im Grunde sind nun die Werte der Vor-Corona-Zeit wieder erreicht worden“.

Also: kein Grund, sich zurückzulehnen – aber auch keiner, um Alarm zu schlagen?

Im britischen Lebensmitteleinzelhandel hört sich das völlig anders an: Matt Hood, Managing Director der Supermarktkette Co-op, beklagte vor kurzem öffentlich, die kriminelle Energie im Handel sei „außer Kontrolle“ geraten – und zwar nicht, weil wegen der steigenden Lebensmittelpreise plötzlich gewöhnliche Kund:innen zur Langfingerschaft neigen würden; sondern vor allem, weil organisierte Diebesbanden den Händlern das Leben immer schwerer machten. Und Hood ist nicht der einzige, der vor drastischen Konsequenzen warnt.

Co-op macht die Problematik zunehmender Diebstähle und Aggressivität zum Thema; Foto: Smb

Banden verursachen hohe Schäden

Auch hierzulande ist sich die Branche der Problematik bewusst. Die Deutsche Presse-Agentur bilanzierte den Einfluss professionell arbeitender Diebesbanden im Handel zuletzt so:

„Bei ihren Taten entwenden sie typischerweise Waren im Wert von 1.000 bis 2.000 Euro oder mehr. [Sie] arbeiten oft mit einer ausgeklügelten Arbeitsteilung, bei der den einzelnen Mitgliedern genau beschriebene Aufgaben zugewiesen werden. Dazu gehört das Beobachten und Ablenken des Verkaufspersonals, das Zusammenstellen des Diebesguts in ‚Depots‘ oder das Tragen der Ware aus dem Geschäft sowie das Sichern der Fluchtwege. Sie arbeiten häufig nach regelrechten ‚Einkaufslisten‘. Schätzungen des Handels zufolge entfällt allein auf diese Banden etwa ein Viertel des Gesamtschadens.“

Die Hamburger Drogeriemarktkette Budni bestätigte gegenüber T-Online gerade, dass sie „eine Zunahme von organisierter Kriminalität“ registriere:

„Diebstähle und auch Diebstahlversuche würden in Häufigkeit und Umfang deutlich steigen. Und: Der Schaden gehe inzwischen in die Millionen Euro.“

Budni meldet eine Zunahme von Diebstahlversuchen in seinen Läden; Foto: Smb

Gestohlen würden insbesondere „hochpreisige Beauty-Produkte“, aber auch dekorative Kosmetik, nach wie vor Rasierklingen und Babynahrung. Budni sieht darin eine „gezielte Beschaffungskriminalität für Flohmärkte und andere Wiederverkaufsmöglichkeiten“.

Co-op-Chef Hood, der steigenden Schwund für Babynahrung, Alkohol und Kaffee anmahnt, ist noch sehr viel deutlicher geworden:

„[P]eople are using baby formula to cut drugs. They’re using it for organised crime.“

Aggressives Verhalten nimmt zu

Zugleich veröffentlichte Hoods Supermarktkette Zahlen, die das Ausmaß des Problems belegen sollen: Zusätzlich zur erhöhten Diebstahlquote steige auch die Bereitschaft bestimmter Kund:innen zu ausfälligem Verhalten („anti-social behaviour“); inzwischen registriere man landesweit 1.000 Fälle pro Tag, im ersten Halbjahr seien es insgesamt 175.000 gewesen – ein Drittel mehr als im Vorjahr. Eine Londoner Co-op-Filaile sei an einem einzigen Tag dreimal überfallen worden. Manche Gegenden würden zu einer „no-go area for local shops“.

Recherchen des British Retail Consortium (BRC) bestätigen den traurigen Trend: Im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit habe sich die Zahl der Angriffe auf Mitarbeitende im Handel verdoppelt.

Die Handelsketten fühlen sich zunehmend im Stich gelassen: Über 70 Prozent der gemeldeten Fälle würden nach Co-op-Angaben von der Polizei gar nicht erst bearbeitet. In einem gemeinschaftlichen Appell an die britische Innenministerin Suella Braverman forderten die großen Lebensmitteleinzelhändler im August, das Problem stärker zu priorisieren und höhere Strafen für Ladendieb:innen in Betracht zu ziehen.

Bis dahin sehen sich die Händler dazu gezwungen, selbst drastischere Maßnahmen zu ergreifen: Tesco hat angekündigt, in 1.000 seiner Express- und Tankstellen-Shops Schutzwände aus Plexiglas an den Kassen zu installieren, um Angriffe auf Mitarbeiter:innen zu verhindern; außerdem soll das Personal, wenn es das wünscht, mit Bodycams ausgestattet werden. Aldi Großbritannien ist nachgezogen, bei Co-op gibt es eine entsprechende Regelung bereits seit 2020.

Ein Showroom für Lebensmittel

Wenn das so weitergehe, werde der Handel zu einer Branche, in der kaum noch Menschen arbeiten wollen würden – aus Angst davor, angegriffen zu werden, sagt der Co-op Chef („it’s going to be an industry that becomes hard for us to bring people into“).

Das ist auch deshalb problematisch, weil der Handel schon jetzt unter massiver Personalknappheit leidet. Selbst vermeintlich harmloses Situationen drohen zu eskalieren: Bei einem Ladendiebstahl in einem Mönchengladbacher Drogeriemarkt wurde der Mitarbeiter, der den Dieb stellen wollte, laut „Rheinischer Post“ mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Auch damit, dass Ladendieb:innen – etwa mit Messer – bewaffnet sind, muss gerechnet werden.

Gleichzeitig werden die Konsequenzen des Problems für Kund:innen im Einkaufsalltag greifbarer. Co-op und Marks & Spencer stellen an den Regalplätzen für „high-value items“ nur noch Dummy-Produkte aus, die darauf verweisen, dass die Artikel an der Kasse erworben werden müssen – selbst Nescafé und Waschmittel gibt’s dann nur noch als Attrappe. Eine Kundin postete auf X erstaunt:

„My local co-op is now a grocery showroom.“

Verschlussware Tafelschokolade

In einem ausführlichen Thread dokumentiert der britische Handelsexperte Bryan Roberts weitere Kuriositäten: von in Warensicherungsboxen verbannten Tafelschokoladen über laminierte Produktabbildungen und netzeingeschweißte Spirituosen bis zu Glasvitrinen, an denen man sich zur Alkoholentnahme autorisierte Hilfe herbeibuzzern kann („Buzz for booze“).

Es ist ein schwieriger Spagat, den die Händler bewältigen müssen – denn Maßnahmen, die Diebstahl vermeiden oder zumindest erschweren, können genau so gut dafür sorgen, ehrliche Kund:innen vom Kauf abzuhalten.

Denn der Lebensmitteleinkauf, der doch eigentlich möglichst hürdenfrei und komfortabel sein soll, wird zunehmend komplizierter – etwa, wenn warengesicherte Artikel nicht mehr einfach an der SB-Kasse bezahlt werden können. Oder wenn es regelmäßig Kontrollen hagelt, die eine vermeintliche Zeitersparnis beim Selbstscannen wieder auffressen (siehe Supermarktblog).

In Deutschland rüsten Händler wie Rewe und Kaufland ihre Self-Checkouts, an denen der Warenschwund oftmals besonders hoch ist, mit Auslassschranken nach, die sich erst öffnen, wenn man als Kund:in den zuvor enthaltenen Bonn scannt (siehe Supermarktblog).

Rückkehr der Einlassschranken

Mit dieser Maßnahme sorgen die Händler gleichzeitig dafür, dass potenzielle Dieb:innen nicht mehr so einfach mit unbezahlter Ware aus dem Laden spazieren können. Und in Märkten, in denen eine Verschränkung bislang noch nicht mitgedacht worden ist? Müssen sich die Mitarbeiter:innen für personalärmere Tageszeiten eben zu helfen wissen:

Kein Personal für die Aufsicht da? Einkaufswagenblockade im offenen SB-Kassenbereich; Foto: Smb

Vielerorts wird die klassische Videoüberwachung, auf die zunehmend prominenter hingewiesen wird, mit Künstlicher Intelligenz kombiniert, um Mitarbeitende zu alarmieren, wenn sich Kund:innen an der Kasse – oder vorher schon im Laden – ungewöhnlich bzw. verdächtig verhalten (z.B. größere Warenmengen in Rucksäcke packen).

Auch die Zeit der offenen Supermärkteingänge, die möglichst einladend auf Kundschaft wirken sollen, scheint sich langsam dem Ende zuzuneigen.

Offene Eingänge wie dieser in einem Berliner Edeka-Markt werden in vielen Supermärkten wieder zur Seltenheit; Foto: Smb

Automatisch öffnende Einlassschranken gab es zwar auch bisher schon in zahlreichen Läden; andere, die bislang auf einen offenen Eingangsbereich gesetzt haben, rüsten aber nach. Wer den Laden wieder verlassen will, muss sich am Ende durch die Kasse quetschen – oder löst am Eingang Alarm aus. Mal kurz das Angebot in der Obst- und Gemüseabteilung checken? Geht nicht mehr.

Taschenverstauverbot beim Einkauf

Mancherorts wird auch der Ton rauer. Einzelne Händler verbieten ihren Kund:innen explizit, Ware bis zur Kasse in mitgebrachten Taschen oder Rucksäcken zu verstauen – stattdessen wird auf eine Einkaufswagen- bzw. Einkaufskorbpflicht verwiesen.

Tascheneinkauf „strengstens untersagt“: Kund:innen-Hinweis in einem hessischen Rewe-Markt; Foto: Jörg R./Smb

Auch Konsequenzen für die reguläre Kassenzone werden sichtbar: Rewe baut in seine Märkte derzeit konsequent eine klassische Bedienkasse mit Förderband, hinter der hochpreisige Artikel in Regalen stehen, die nur fürs Kassenpersonal zugänglich sind. (Edeka macht’s teilweise ähnlich.)

Tabak und Spirituosen werden vom Kassenpersonal – hie bei Edeka – direkt ausgegeben; Foto: Smb

In den USA, wo die National Retail Federation ebenfalls beklagt, dass Ladendiebstähle einen „growing organized retail crime effort“ unterstützen, hat die Supermarktektte Safeway die Öffnungszeiten einzelner Läden eingeschränkt, um Ladendiebstähle zu verringern; Wettbewerber Walgreens sicherte Tiefkühlpizza und Speiseeis in einer Filiale kurzerhand mit Kette und Vorhängeschloss. In einem Walgreens-Pilot-Store in Chicago gibt es nur noch zwei Regalreihen zur Selbstbedienung für so genannte „Essentials“ – alles andere kann bzw. muss an Touchscreens bestellt werden und wird von Mitarbeitenden im Lager zur Sofortabholung fertig gepackt.

Target schließt gefährdete US-Filialen

Und wenn das alles nicht reicht?

Dann ist an besonders problematischen Standorten halt im wahrsten Sinne des Wortes Ladenschluss: Vor einer Woche gab der zweitgrößte US-Händler Target neun seiner Filialen in New York (Harlem), Seattle, San Francisco/Oakland und Portland mit der Begründung auf, der Lage dort auch mit massiv erhöhtem Sicherheitsaufwand nicht mehr Herr zu werden:

„In this case, we cannot continue operating these stores because theft and organized retail crime are threatening the safety of our team and guests, and contributing to unsustainable business performance.“

Man sei sich der Tatsache bewusst, dass die Läden eine wichtige Versorgungsolle in vielen Gemeinschaften spielten;

Target zieht in den USA die Konsequenzen und schließt besonders diebstahlanfällige Filialen; Foto: Smb

„but we can only be successful if the working and shopping environment is safe for all“.

Im Frühjahr hatte auch Whole Foods US-Filialen mit ähnlicher Begründung geschlossen, zunächst aber nur zeitweise.

Wie reagieren Supermärkte in Deutschland?

Aufgrund zunehmenden Professionalisierung und Gewaltbereitschaft sind die vermeintlich schusseligen Langfinger aus der Lokalzeitung plötzlich zu einer ernsthaften Bedrohung geworden, und zwar nicht nur für die Umsätze der Händler, sondern mancherorts sogar für eine funktionierende Grundversorgung. Von einer „Rückkehr zur Normalität früherer Jahre“, wie sie das EHI für 2022 bilanziert hat, sind wir dann vielleicht auch hierzulande schon ziemlich bald weit entfernt.

Wie reagieren Supermärkte in Deutschland auf steigende Diebstähle? Ich freue mich über Hinweise auf interessante Schutz- und Warensicherungsmaßnahmen, gleich unter diesem Text in den Kommentaren oder per E-Mail.

Vielen Dank an Jörg und Stefan!

Mehr zum Thema:

Der Beitrag Wie Supermärkte wegen zunehmenden Diebstahls zur Festung werden erschien zuerst auf Supermarktblog.


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