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Pick & Go im Lebensmittelhandel: Ein Schritt vorwärts – und einer zurück?

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Als Dominic Brynolf, Vice President des israelischen Tech-Start-ups Trigo, an einem kalten Januar-Morgen vor der Regensburger Filiale eines Netto-(ohne Hund)-Discount-Markts stand, um die Hosts des US-Blogs „Omni Talk Retail“ per Livestream zum Einkaufen mitzunehmen, waren die ganz aus dem Häuschen angesichts der „Next-level experience“, die es zu begutachten gab.

Brynolf schnappte sich einen Einkaufswagen, schlenderte zwischen normal einkaufenden Kund:innen durch die Gänge und erklärte, während er einzelne Artikel aus den Regalen nahm, was diese Filiale so besonders macht.

Netto (ohne Hund) Pick & Go in Regensburg; Foto: Netto Marken-Discount Stiftung & Co. KG

Nichts Geringeres als die „store automation 2.0 revolution“, wie es bei Trigo heißt: der angeblich weltweit erste Supermarkt mit Computer Vision, in dem man sich für den Einkauf vorher nicht mehr anmelden muss. (Dass das so – wie gesagt – nicht korrekt ist, weil mindestens Rewe, Aldi Nord und Tesco in einigen ihrer Testfilialen bereits ähnlich verfahren, ohne das bislang selbst groß zu kommunizieren, lassen wir mal außen vor.)

Und tatsächlich ist der Markt in vielerlei Hinsicht ein Fortschritt – aber eben: in manch anderer auch das exakte Gegenteil.

Obst und Gemüse grammgenau erkannt

Dass mit Netto (ohne Hund) überhaupt ein großer deutscher Discounter experimentiert, wie sich Einkaufen in Zukunft einfacher und zeitsparender gestalten ließe, ist in jedem Fall begrüßenswert. (Ob das vorrangig vom Interesse getrieben ist, der Kundschaft Gutes zu tun, oder eher dadurch, im Erfolgsfall z.B. weiteres Personal sparen oder vorhandenes besser einsetzen zu können, ist eine andere Frage.)

Der Fortschritt des Netto-(ohne Hund)-Modells in Regensburg besteht jedenfalls darin, dass es am Eingang keine Schranken mehr gibt, die per App geöffnet werden müssten. Das erleichtert den Zugang und wird auch in anderen Testfilialen (u.a. von Amazon Fresh in Großbritannien) ausprobiert.

Neu und besonders ist zudem, dass während des Einkaufs auch Obst und Gemüse ohne Zutun der Kundschaft automatisch abgewogen wird – und zwar: sobald es aus dem Regal genommen wird. Den grammgenauen Preis dafür zeigt das digitale Preisschild am Regal an.

Obst & Gemüse wird automatisch abgewogen; Foto: Netto Marken-Discount Stiftung & Co. KG

(Und ich gehe mal stark davon aus, dass Netto [ohne Hund] für diesen großflächigen Einsatz von Mettler-Toledo-Waagen in den Regalen der Obst- und Gemüse-Abteilung sämtliche Vorgaben der bayerischen Mess- und Eichverordnung [PDF] strengstens einhält.)

Am „Fast Exit Terminal“ wird doch wieder bezahlt

Die auffälligste Neuerung im Laden ist aber: Am Ende können alle Kund:innen, wenn sie nicht an einer regulären Kasse bezahlen wollen, an eine „Easy Out Station“ gehen (die bei Netto „Fast-Exit-Terminal“ heißt; siehe Supermarktblog). Dort bekommen sie den im Hintergrund erstellten virtuellen Warenkorb auf einem Bildschirm angezeigt, um ihn überprüfen und per Karte oder Smartphone (z.B. auch mit der Netto-eigenen App) bezahlen zu können. Den Kassenbon gibt’s direkt aus dem Drucker, danach öffnet sich die Auslassschranke von selbst.

Haben mehrere Personen gemeinsam eingekauft, stellen sie sich zeitgleich gemeinsam in die gelbe Bodenmarkierung vor dem Terminal. Dann erfasst das System die zugerechneten Artikel auf einer Gesamtrechnung.

„I consider this a defining moment in retail automation“, erklärte Trigo-CEO Daniel Gabay im Januar.

„We predict this feature will accelerate consumer adoption of frictionless checkout by inspiring confidence and trust in the technology.“

Auch in Deutschland sind – von der Fachpresse bis zum Hochschulprofessor – alle ganz aus dem Häuschen angesichts dieser „Weiterentwicklung“. Denn mit dem Verfahren setzt sich vermutlich endgültig durch, dass Computer-Vision-gesteuerte Supermärkte ihren Kund:innen den Warenkorb noch vor dem Verlassen des Ladens anzeigen, gewissermaßen in Echtzeit – und nicht, wie bisher vielfach üblich, erst im Nachgang und teilweise mit mehreren Minuten Verzögerung per E-Bon – einer großen Schwachstelle der Technologie.

Fortschritt oder Downgrade?

Gleichzeitig lässt sich der Fortschritt aber auch als Downgrade verstehen. Denn „checkout-free“, also kassenlos, ist der Regensburger Netto-(ohne Hund)-Markt ja nun nicht mehr. (Die Kasse erledigt nur das meiste von selbst.)

Das mag pingelig klingen, ist aber ein wesentliches Detail: Über mehrere Jahre haben Supermärkte im Testfieber ihren Kund:innen versprochen, am Ende des Einkaufs gar nicht mehr an die Kasse zu müssen, sondern die Testmärkte einfach wieder verlassen zu können; die Bezahlung erfolgte automatisch über das per App angelegte Kund:innenkonto bzw. die dort verifizierte Zahlart (Amazon hat damit angefangen: „Just Walk Out“).

Auch beim ersten Netto (ohne Hund) Pick & Go lief bzw. läuft das so: Registrierte Nutzer:innen bekommen innerhalb der Netto-(ohne Hund)-App eine „Pick & Go“-Schaltfläche angezeigt, die einen QR-Code generiert, der am Ein- und Ausgang gescannt werden muss, um sich zu verifizieren. Im Markt bezahlen muss man dann nicht mehr.

Screenshot: Nettop-App/Smb

Von diesem Prinzip haben sich Trigo und Netto (ohne Hund) in Regensburg vollständig verabschiedet – bislang ohne die konkreten Gründe dafür zu nennen.

Einfach rausgehen – geht nicht mehr

Naheliegend ist, was auch andere Handelsketten längst erfahren haben: Dass sich schlicht und einfach zu wenige Kund:innen vor dem Lebensmitteleinkauf in einer App registrieren wollen, um dann kassenlos einzukaufen. Um diese Hürde zu beseitigen, opfern Trigo und Netto (ohne Hund) das bislang zentrale Versprechen KI-gesteuerter Supermärkte: den vollständigen Verzicht auf den Bezahlvorgang und die Einladung, den Laden am Ende einfach verlassen zu dürfen.

Genau das geht in Regensburg nämlich nicht mehr, wie Netto (ohne Hund) auf Supermarktblog-Nachfrage bestätigt – selbst wenn der dort nun installierte Check-out stark vereinfacht ist und in beschleunigter Form abläuft.

(In der App wird für den Markt – zumindest derzeit – keine Pick-&-Go-Schaltfläche samt QR-Code angezeigt.)

Der Regensburger Markt könnte das neue Vorbild für weitere Einsätze der Technologie sein; Foto: Netto Marken-Discount Stiftung & Co. KG

Aus Pick & Go wird somit „Pick, Pay & Go“. Und es gibt gute Gründe dafür, das genau so zu versuchen, weil damit eine große Barriere für Kund:innen beseitigt wird und die Technologie auch von allen genutzt werden kann, die sich nirgendwo anmelden wollen.

Ob mittelfristig auch der Münchner Pick & Go auf das neue Verfahren umgestellt wird, kommentiert Netto (ohne Hund) auf Supermarktblog-Anfrage nicht; es läge aber nahe.

Angriff auf den Self-Checkout

In erster Linie ist die in Regensburg präsentierte Lösung ein Angriff auf den klassischen Self-Checkout, weil Trigo damit das Scannen der eingekauften Artikel vor dem Bezahlen eliminiert. Für Händler hat das zudem den Vorteil, dass keine Nachprüfungen der virtuellen Warenkörbe mehr vorgenommen werden (müssen); es bedeutet aber auch, dass eine möglicherweise notwendige Korrektur komplett auf die Kundschaft verlagert wird.

Auf Supermarktblog-Anfrage erklärt eine Netto-(ohne Hund)-Sprecherin:

„Kundinnen und Kunden können am Display am Fast-Exit-Terminal Artikel (z.B. Einkaufstasche) durch eigenständiges Scannen hinzufügen. Zudem kann eigenständig über den Touchscreen ein Artikel aus der Übersicht gelöscht werden.“

Das ist praktisch – schließt aber das Risiko mit ein, dass Kund:innen vor dem Bezahlen munter irgendwelche eigentlich korrekt erkannten Artikel aus der Übersicht löschen.

Netto (ohne Hund) muss am Fast Exit Terminal vorerst auf die Ehrlichkeit seiner Kund:innen vertrauen. (Während zeitgleich reguläre Self-Checkouts durch den Einsatz neuer Technologien Diebstahl-sicherer gemacht werden sollen; siehe Supermarktblog.)

Ungeklärt ist die Frage: Wenn das System einen aus dem Regal genommenen Artikel nicht erkannt hat, gilt der dann als geklaut, wenn man als Kund:in den Warenkorb am Check-out nicht exakt überprüft und korrigiert hat?

Alterskontrolle muss sein

Ganz so schnell läuft der Einkaufsabschluss auch dann nicht, wenn man Artikel erwirbt, die aus Jugendschutzgründen einer Altersprüfung unterliegen; das Fast-Exit-Terminal verweigert dann zunächst die Bezahlung. Von Netto (ohne Hund) heißt es dazu:

„Kundinnen und Kunden, die in der Regensburger Pick&Go-Filiale Alkohol bzw. Tabakware kaufen, wird am Fast-Exit-Terminal angezeigt, dass zum Erhalt des bezahlten Kassenbons und zur Öffnung des Fast-Exit-Terminals das Filialteam informiert werden muss. Die erforderliche Alterskontrolle wird dann von einer Mitarbeiterin bzw. einem Mitarbeiter vorgenommen.“

Dominic Brynolf von Trigo deutete bei seinem Rundgang an, dass einmal verifizierte Kund:innen für künftige Einkäufe vom System anhand der verwendeten Karte (per virtuellem Token) „erinnert“ werden können; Netto (ohne Hund) zufolge ist diese Option in Regensburg derzeit aber noch nicht live. Das heißt: Vorerst braucht es bei jedem „Pick, Pay & Go“-Einkauf mit Jugendschutz-relevanten Artikeln eine Verifizierung durch Mitarbeitende.

Insgesamt sind das noch sehr, sehr viele Unwägbarkeiten, die auf dem Weg zum massentauglichen Einsatz der Technologie alltagsbewältigt werden müssen; die Frage ist ohnehin: Lohnt sich der ganze Umrüstaufwand mit Kameras und Sensoren, bloß um der Kundschaft am Ende das Scannen zu ersparen?

Effiziente Lösung für den Discount?

Kann sein, dass die Antwort ja lautet.

Vielleicht ist die Regensburger Variante auch für das Vertriebsformat Discount genau das Richtige, weil sie Optionen einschränkt und auf die derzeit einfachste Lösung setzt, wie es seit jeher zu den Kernversprechen des Discounts gehört hat.

Möglicherweise lohnt sich die Trigo-Lösung auch schon deswegen für Händler, weil sie etwas weniger anfällig für klassischen Diebstahl ist als ein regulärer Self-Checkout und zugleich Warenbestände in Echtzeit zu analysieren verspricht.

Regensburg könnte gleichwohl nur einer von vielen Ansätzen für Händler sein, die auf KI-gesteuerte Märkte setzen wollen. Rewe scheint nach der Eröffnung seines neuen Pick-&-Go-Markts in Düsseldorf auf eine leicht andere Lösung zu setzen, indem die automatisierte Warenkorberkennung ohne Anmeldung an der regulären SB-Kasse als neuer Standard oder Zusatzoption geboten wird (siehe dazu Supermarktblog und Retail Optimiser). So ließe sich ein größeres Kund:innenspektrum abdecken als es bisherigen Pick-&-go-Läden möglich ist.

Echtzeit-Warenkörbe auch anderswo geplant

AuchTrigo hat angekündigt, den in Echtzeit erstellten virtuellen Warenkorb anderen Märkten zugänglich machen zu wollen:

„Netto Regensburg is a true first, but moving forward we will enable real-time receipts in all Trigo-powered stores.“

Bestenfalls würde das bedeuten, dass dank dieser „real time cart building experience“ auch registrierte Kassenlos-Einkäufer:innen am Ladenende ihren Warenkorb per Smartphone schon auf Richtigkeit kontrollieren könnten – zumindest falls die Handelsketten das wollten.

Aber dafür, dass die Branche derzeit so selbstberauscht von der Zukunft des Einkaufs mit Computer-Vision-Technologie schwärmt, sind weiterhin noch ziemlich viele Fragen offen.

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Der Beitrag Pick & Go im Lebensmittelhandel: Ein Schritt vorwärts – und einer zurück? erschien zuerst auf Supermarktblog.


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