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Amazon Fresh macht Berlin zum Schweizer Lieferkäse

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Nach langem Vorlauf hat Amazon an diesem Donnerstag seinen Lebensmittel-Lieferdienst Fresh in der Hauptstadt gestartet – nein, Pardon: „in Teilen von Berlin und Potsdam“. Alle Details, die Vorteile und ein paar interessante Stolpersteine stehen im folgenden Überblick.


Die Lieferzeit

Amazon Fresh will schnell sein. Sehr schnell. Wer seinen Einkauf bis 12 Uhr bestellt, kann ihn noch am selben Tag zwischen 16 und 22 Uhr in Empfang nehmen. Dafür bietet Amazon drei Zwei-Stunden-Zeitfenster an. So flott ist die Konkurrenz derzeit nicht. Kaufland wirbt aktuell damit, dass Bestellungen bis 21.30 Uhr für den folgenden Tag verarbeitet werden. Amazon Fresh lässt Kunden bis 23 Uhr Zeit, um den Einkauf am nächsten Tag zu kriegen. Dummerweise gilt das allerdings nicht fürs komplette Sortiment. (Später mehr dazu.)

Kurz gesagt: Sie können jetzt wieder aufhören, Lebensmittel fürs Abendessen bei Prime Now zu bestellen.

Das Liefergebiet

Amazon hat die Berliner Mauer wieder aufgebaut. Sie verläuft einmal mitten durch die Stadt, vom Norden im Pankow durch Prenzlauer Berg und Mitte, weiter durch Neukölln und Tempelhof – und ist glücklicherweise nicht nur virtuell, sondern auch höchst durchlässig. In jedem Fall können nicht alle Berliner direkt Fresh-Besteller werden. Amazon selbst spricht von „ausgewählten Postleitzahlengebieten“, in denen der Dienst derzeit angeboten wird, und verspricht, die Zahl der verfügbaren Gebiete „laufend“ zu erweitern. Potenzielle Kunden müssen per Liefermaske abfragen, ob sie bestellen können.

Das hat ganz bestimmt System – allerdings keines, das sich auf Anhieb durchschauen ließe. Auffällig ist tatsächlich die einmal längs durch die Stadt laufende Kette der Bezirke, die bislang nicht gelistet sind. An markanten Punkten der Stadt ist Fresh zum Start deshalb nicht verfügbar: nicht am Alexanderplatz und am Hackeschen Markt, nicht in der Schönauser Allee oder am Kollwitzplatz, nicht am Moritz- und am Hermannplatz, nicht in weiten Teilen Schönebergs. Überall dort also, wo ein nicht unwesentlicher Teil der Fresh-Zielgruppe wohnen dürfte.

Dafür funktioniert die Lieferung an den Stadtrand im Osten schon jetzt (z.B. nach Falkenberg); ausgerechnet rund ums Amazon-Fresh-Versandlager in Tegel werden Kunden hingegen noch nicht bedient. Markiert man die freigeschalteten Bezirke auf der Karte, sieht die Stadt aus der Vogelperspektive aus wie ein Schweizer Käse – voller Löcher.

Das kann mehrere Gründe haben. Sehr wahrscheinlich ist, dass Amazon den Dienst nicht direkt nach dem Start an die Auslastungsgrenze fahren will, und es gerade deshalb in potenziellen Hauptbestellgebieten langsam angehen lässt, um ein bisschen Routine zu kriegen. Oder anfangs z.B. besonders verkehrsintensive Bereiche ausspart, um pünktlich sein zu können.

Möglich ist aber auch, dass der (inzwischen bestätigte) Lieferpartner DHL die Einschränkungen mitbringt. Anders als in den USA und Großbritannien fährt Amazon Fresh die Bestellungen nicht selbst aus, sondern hat die Post-Tochter dafür verpflichtet. (Was zu der Kuriosität führt, dass DHL jetzt am Versandzentrum in Tegel neben den Lieferfahrzeugen der Kurierdienste hält, mit denen Amazon im vergangenen Jahr seine eigene Logistikflotte aufgebaut hat, die DHL einen großen Teil der klassischen Pakete wegnimmt.)

Dafür wird DHL seine Express-Flotte ordentlich aufstocken müssen.

Dass die Fresh-Lieferungen über die regulären Touren ausgeliefert werden, ist unwahrscheinlich. Einerseits, weil dann die Zeitfenster kaum eingehalten werden könnten. Und andererseits, weil DHL gar nicht überall in der Stadt selbst zustellt, sondern einzelne Posteleitzahlengebiete an externe Auftragnehmer vergeben hat, mit denen der Amazon-Deal womöglich nachverhandelt werden muss. (Wobei viele externe Fahrer jetzt schon überlastet sind und ihren Paketschwung in einem Rutsch in Ladenlokalen abgeben.)

Hier steht die Liste mit den verfügbaren PLZ-Gebieten, zu der Amazon aber gleich dazu schreibt, dass sie in Zukunft vielleicht nicht immer aktuell ist.

Kurz gesagt: Zumindest zum Start ist Amazon Fresh ein Schweizer Lieferkäse.

Die Kosten

Einen Aufschlag von monatlich 9,99 Euro verlangt Amazon von Kunden, die bereits 69 Euro jährlich für eine Prime-Mitgliedschaft zahlen. Dafür kann beliebig oft bestellt werden, sofern der Mindestbestellwert von 40 Euro überschritten wird. Damit ist Fresh zwar günstiger als im Amazon-Mutterland USA, wo aktuell 14,99 Dollar fällig werden (13,70 Euro) – aber teurer als in Großbritannien, wo Fresh seit dem vergangenen Jahr für monatlich 6,99 Pfund ausliefert (was auch am Brexit-bedingt niedrigen Pfund-Kurs liegen dürfte; umgerechnet sind’s derzeit 8,25 Euro).

Fresh kann nach aktuellem Stand 30 Tage kostenlos ausprobiert und danach monatlich gekündigt werden.

Zu den günstigsten Anbietern gehört der Lieferdienst damit allerdings nicht. Am ehesten lohnt sich Fresh für Wenig-Oftbesteller. Wer sich den kompletten Wocheneinkauf für die Familie nachhause ordert (und genau auf diese Zielgruppe hat es Amazon nach eigenen Auskünften abgesehen), der kommt beim Konkurrenten Kaufland günstiger. Dort sind Lieferungen über 100 Euro derzeit generell versandkostenfrei. Wer weniger als dreimal im Monat, aber über 80 Euro bestellt, kommt im Zweifel beim Rewe Lieferservice günstiger weg. Der größte Vorteil des Amazon-Modells: Durch das Monatsabo-Modell (das auch Rewe derzeit in Köln testet) gibt es nur eine einzige Lieferkostenpauschale anstatt verschiedener Stufen.

Kurz gesagt: Das Fresh-Lieferkostenmodell ist simpel, aber im Vergleich mit der Konkurrenz bei weitem nicht das günstigste.

Der größte Vorteil

28 „Lieblingsläden“ ergänzen das klassische Supermarktsortiment von Amazons Lebensmittel-Lieferdienst: u.a. Lindner, Zeit für Brot, Filetstück, Kochhaus und The Barn. Das ist eine beachtliche Zahl zum Start.

Die Feinkostgeschäfte, Bäcker, Fleischer, Kaffeeröster, Anbieter von Süßwaren, Kochboxen und gesundem Fastfood sind der größte Vorteil, den Fresh gegenüber der Lieferkonkurrenz in der Hauptstadt hat – weil Amazon damit einen besonderen Akzent setzt, den die anderen nicht bieten. Die Idee, zum gewöhnlichen Wocheneinkauf ein besonderes Stück Fleisch, die leckeren Zimtschnecken aus der Brotmanufaktur oder eine edle Bohnenmischung dazubestellen zu können, ist grandios. Dass das Angebot einzelner „Lieblingsläden“ bislang überschaubar ist, lässt sich daher auch verschmerzen.

Die Besonderheit ist aber zugleich ein potenzieller Stolperstein für den Dienst: Denn die „Lieblingsläden“ verkomplizieren die ohnehin anspruchsvolle Logistik von Amazon Fresh noch zusätzlich.

Amazon erklärt, die Waren „täglich frisch“ von den Partnern abzuholen; das heißt: zusätzliche Touren zum Lieferlager nach Tegel sind notwendig, um die Produkte dort den Bestellungen zuordnen und sie für die Auslieferung bereitstellen zu können. (Im Zweifel erhöht sich auch der Sortieraufwand, falls Bestellungen zweimal angefasst werden müssen.)

Zugleich sorgen die „Lieblingsläden“ dafür, dass Fresh sein Versprechen, 12-Uhr-Bestellungen noch am selben Tag zum Kunden zu bringen, nicht einhalten kann – es sei denn, der Einkaufsauftrag ist bis 8 Uhr morgens abgeschickt. Wer später dran ist, muss sich bis 17 Uhr entscheiden, damit die Produkte aus den „Lieblingsläden“ am nächsten Tag mit in der Tüte sind. Das ist zwar nachvollziehbar (irgendwann muss ja gebacken werden) – aber auch erklärungsbedürftig. Zumal die Auswahl der Artikel aus den „Lieblingsläden“ bei der Bestellung mit dem ausgewählten Lieferfenster kollidieren können.

Derzeit gibt es zwei Zeitfenster, in denen die „Lieblingsläden“-Produkte verfügbar sind: morgens ab 5 Uhr und nachmittags ab 16 Uhr (jeweils des darauffolgenden Tags).

Kurz gesagt: Määäh, die leckeren Zimtschnecken waren für morgen früh schon lange vor 17 Uhr ausverkauft.

Das Sortiment

Nach Angaben von Amazon umfasst das Sortiment 85.000 Artikel – zum Vergleich: Als Kaufland im vergangenen Herbst seinen Lieferdienst startete, waren „über 10.000 Artikel“ verfügbar (siehe Supermarktblog).

Keine Frage: Die Vielfalt ist im übrigen Sortiment eine von Amazons größten Stärken. Im Lebensmittelgeschäft kann sie im Zweifel aber zum großen Nachteil werden. Nicht nur, weil die 26 unterschiedlichen Tomaten-Angebote, die derzeit im Fresh-Sortiment gelistet sind, gelagert werden müssen. Sondern auch, weil es für Kunden die Hölle ist, sich für die richtige Sorte, Größe und Grammzahl zu entscheiden, wenn die Produktfotos sich massiv ähneln (und manche Tomaten erst am nächsten Tag verfügbar sind, wenn sie vom „Lieblingsladen“ Basic kommen).


Foto: Amazon

Gleichzeitig bringt’s natürlich überhaupt nichts, bei einer so ungeheuren Zahl an Artikeln nicht mal Halloumi-Grillkäse im Angebot zu haben. (Es sei denn, Amazon berücksichtigt schon automatisch das aktuelle Wetter in Berlin und nimmt an, das im auf unbestimmte Zeit verlängerten April eh niemand grillen will.)

Dafür aber Spinat-Brokkoli-Süppchen in der Aufwärmtüte vom Hipster-Start-up für satte 8 Euro.

Das Sortiment dürfte freilich ziemlich schnell nachjustiert werden – die Konkurrenz tauscht Artikel ja auch schneller aus als man sie nachbestellen kann. In jedem Fall kann Amazon von Glück sagen, über die Vereinbarung mit Tegut (ursprünglich für Prime Now) auch Eigenmarken-Produkte zum Discountpreis anbieten zu können – selbst wenn z.B. Kaufland mit K-Classic in dieser Hinsicht sehr viel besser aufgestellt ist.

Kurz gesagt: Mit dem heutigen Tag ist der Lebensmittel-Lieferkampf in Berlin noch mal ein großes Stück interessanter geworden.

Fotos: Amazon, Supermarktblog, Screenshots: Amazon.de/Smb"


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