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Channel: Peer Schader, Autor bei Supermarktblog
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Was für den Erfolg von Amazon Fresh spricht – aber auch: was dagegen

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Pünktlich im vereinbarten Zeitfenster klingelt der ziemlich geschaffte Kurier in DHL-Montur, zieht den Papiertüteneinkauf aus den grünen Polstertaschen mit Isoliermanschetten und saust dann in seinem unscheinbaren Transporter davon, um die restlichen grün schimmernden Taschen in der Nachbarschaft zu verteilen. Potzblitz: Amazon Fresh funktioniert!

Alles andere wäre nach dem über Monate hinausgezögerten Start aber auch eine ziemliche Enttäuschung gewesen.

In der vergangenen Woche ist Amazons Lebensmittel-Lieferdienst nun aber doch noch in Berlin und Potsdam gestartet, jedenfalls so halb (siehe Supermarktblog). Schon seit Monaten geben sich viele Medien Mühe, das Angebot zum Supermarktkiller hochzuschreiben, mindestens aber zu einem zwangsläufigen Erfolg. Die „Wirtschaftwoche“ war sich kürzlich nicht zu doof, „exklusiv“ zu melden, dass sich die Insolvenzverwalter-Branche wegen der zu erwartenden Ladenschließungen bereits die Hände reibt.

Und die sonst eigentlich ganz vernünftigen Kollegen von Etailment texteten die Gaga-Clickbait-Überschrift „Dieses Chart zeigt, warum Amazon Fresh schon gewonnen hat“ über die simple Feststellung, dass Amazon in der Umfrage einer Unternehmensberatung häufiger als E-Food-Händler genannt wurde als etablierte Lebensmittelketten.

(Im Zweifel bedeutet das freilich nur, dass Kunden in Umfragen automatisch immer den Händler nennen, von dem sie erwarten, dass er ohnehin alles hat – Amazon halt.)

Vorratskäufer wechseln zu Amazon

Richtig ist: Amazon bietet auch ohne Fresh, das es bislang gerade mal in 13 Metropolregionen weltweit gibt, schon jetzt ein beachtliches Sortiment an Lebensmitteln, die nicht frisch gehalten oder gekühlt werden müssen.

Auswertungen von One Click Retail zufolge sind Amazons Umsätze mit Lebensmitteln in den USA, Großbritannien und Deutschland im 1. Quartal 2017 um 30 Prozent (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, z.T. mit sehr überschaubarem Gesatumsatz) gestiegen. Die deutschen Kunden bestellten bei Prime Pantry vor allem Produkte die man – nun ja: online gut bestellen kann, weil niemand Lust hat, sie aus dem Supermarkt nachhause zu tragen: Getränke, Nudeln, Konserven. (Hier geht’s zur Übersicht mit den Top 20-Lebensmitteln.)

Vor allem (amerikanische) Männer zwischen 18 und 44 Jahren bestellen laut One Click Retail Lebensmittel im Netz, um sich den Gang in den Laden zu sparen.

Fresh soll Amazon dabei helfen, künftig auch als Anlaufstelle für Obst, Gemüse und Kühlprodukte wichtiger zu werden. One Click Retail geht laut „The Grocer“ aber davon aus, dass der Dienst bislang „unter 5 Prozent“ der Amazon-Lebensmittelumsätze beisteuere. Wenn Händler panisch werden wollten, hätten sie also auch ohne Fresh schon Grund dazu: Weil Amazon im Zweifel dafür sorgt, dass stationäre Supermärkte für Vorratskäufer an Bedeutung verlieren.

„Amazon ist ja kein Newcomer“

Dass macht die Fresh-Hysterie der Medien, befeuert von Einschätzungen zahlreicher „Experten“, noch ein bisschen kurioser.

Im Interview mit Etailment vermutet z.B. der Heilbronner Handelsprofessor Stephan Rüschen, gerade ein beliebter Interviewpartner für Journalisten, in Berlin „jetzt drei große Onlineanbieter: Rewe, Kaufland und Amazon“ – und vergisst mal eben so den von Edeka übernommenen Dienst Bringmeister, dessen Lieferfahrzeuge in der Stadt omnipräsent sind.

Zudem ist Rüschen sich quasi sicher, dass Amazon Fresh ein Erfolg wird:

„Die einzige Gefahr für Amazon ist nur, dass sie die versprochenen Leistungen nicht hinbekommen. Aber das werden sie schaffen, schließlich bringt das Unternehmen genügend Erfahrungen aus den USA und England mit. Amazon ist ja kein Newcomer.“

Außer halt: doch.

Das legt zumindest die Lektüre der Arbeit von Vrajesh Y. Modi nahe, der am Massachusetts Institute of Technology untersuchte, wie sich Amazon beim Aufbau seines Lebensmittel-Lieferdiensts in Seattle schlug. Das Ergebnis ist wenig schmeichelhaft für ein Unternehmen, von dem so viele Journalisten annehmen, es sei nahezu perfekt.

Modi kam in seiner Arbeit (mit dem angemessen wissenschaftlich umständlichen Titel „Application of Flexible Labor and Standard Work in Fulfillment Center Produce Operations“) zu einem anderen Schluss (PDF downloaden, 3,8 MB).

Frische braucht Übung

Über 28 Wochen untersuchte der Autor die Abläufe im Fresh-Logistikzentrum – vornehmlich mit dem Ziel, durch eine effizientere Planung der Arbeitsabläufe Kosten zu senken. Dafür hat Modi sich intensiv mit den Erfordernissen beschäftigt, die für die Lieferung frischer Lebensmittel nötig sind, und stellte fest, dass dafür eine deutlich komplexere Herangehensweise nötig ist als bei den Waren, mit denen Amazon zu hantieren gewohnt ist.

  • Frische Lebensmittel können nicht notwendigerweise in der Reihenfolge angenommen werden, in der sie im Logistikzentrum ankommen. Bei der Anlieferung muss z.B. gemessen werden, ob die Ware die richtige Temperatur hat – und entschieden, was passiert, falls nicht.
  • Nicht alle Lebensmittel können nach dem Chaos-Prinzip eingelagert werden, das Amazon sonst in seinen Lagern praktiziert. Viele Artikel müssen gekühlt werden, oder so verstaut sein, dass sie als letztes komissioniert werden können, um nicht von anderen beschädigt zu werden (z.B. Chips und Eier). Dafür gibt es im Zweifel eine vorgegebene Packreihenfolge.
  • Gewisse Artikel dürfen nicht zusammen in einer Tüte liegen (Zwiebeln und Knoblauch nicht mit Blumen, Bio nicht mit konventioneller loser Ware, frisches Fleisch generell so, dass es nicht zu Verunreinigungen kommt usw.).
  • Dazu sind viele Produkte zerbrechlich, können schlecht werden, müssen auf ihre Haltbarkeit kontrolliert werden.
  • Andere müssen evtl. gesäubert werden, um sie in den Verkauf geben zu können, oder in Schaumhüllen eingepackt, damit sie die Lieferung unbeschadet überstehen.


Foto: Amazon Fresh truck on Capitol Hill (USA): SounderBruce, CC BY-SA 2.0 via Flickr

All das ist zweifelsfrei machbar, wie zahlreiche Lebensmittel-Lieferdienste jeden Tag beweisen. Aber es sorgt für eine zusätzliche Komplexität, an die Amazon (bislang) nicht gewöhnt war. Zumal die Abläufe vermutlich ganz wesentlich von der Art und Größe des Lagerraums abhängen, die sich an den einzelnen Fresh-Standorten massiv unterscheiden können.

Das Bananen-Missverständnis

Anders gesagt: Was die Lagerung und Lieferung von frischen Lebensmitteln angeht, ist Amazon ein totaler Newcomer. Offensichtlich auch noch nach den zehn Jahren, die es Fresh jetzt schon gibt. Sonst müsste Amazon den Start in neuen Städten ja nicht immer wieder so umfangreich vorbereiten.

Wer Modis Arbeit komplett liest, versteht auch, wie schwierig es ist, den nötigen Lernprozess möglichst effektiv zu gestalten.

Ursprünglich verkaufte Amazon Fresh in Seattle Bananen in Fünfer-Packs. „Büschel“ mit lediglich vier Früchten wurden aussortiert; bei anderen wurden überschüssige Früchte abgetrennt – und ebenfalls aussortiert. Das war aufwändig, teuer und verschwenderisch. (Mori rechnet vor, dass anfangs ein Drittel der angelieferten Früchte aussortiert wurde.) Nach einer Weile hat Amazon auf den Verkauf in gewichtsbasierten Einheiten umgestellt. Die Kunden haben deswegen etwas mehr Ware für ihr Geld bekommen. Dafür mussten weniger Früchte aussortiert werden und die Lieferanten waren bereit, direkt in Zwei-Pfund-Packs anzuliefern.

Der gesunde Menschenverstand sagt Ihnen und mir (und dem geübten Lebensmitteleinkäufer großer Handelsketten erst recht), dass das von vornherein so hätte laufen können.

Amazon hat es trotzdem erst lernen müssen. Das ist gar nicht als Vorwurf gemeint. Es spricht aber dafür, dass der Umgang mit frischen Lebensmitteln auch für einen Riesenkonzern wie Amazon eine enorme Herausforderung darstellen kann.

Fehler passieren auch zweimal

Nun lässt sich zurecht einwenden, dass Fresh ja bereits 2007 in Seattle an den Start ging – und Amazon inzwischen „genügend Erfahrungen aus den USA und England mit(bringt)“, wie Handelsprofessor Rüschen glaubt.

Was die Bananen angeht, stimmt das vermutlich auch (in Deutschland sind es für Bio-Bananen offensichtlich 600-Gramm-Einheiten; natürlich in Plastik verpackt – weil das für die Kommissionierung praktisch ist).

Ganz so einfach ist das womöglich nicht immer. Beim Start in London im Juni 2016 hatte Amazon immerhin schon neun Jahre Erfahrung mit Fresh in den USA. Was den Konzern nicht davon abhielt, eine ganze Reihe von Fehlern noch einmal neu zu machen. Die „Daily Mail“ berichtete damals u.a. dass

  • Amazon Fresh bei Kunden, die ihren Liefertermin aus Zeitgründen absagen mussten, trotzdem mit dem kompletten Einkauf vor der (verschlossenen) Tür stand,
  • dass bei einer nachträglichen Änderung der Lieferzeit die komplette Bestellliste noch einmal von vorne eingegeben werden musste,
  • und dass einige der Produkte anderswo auf der Amazon-Website günstiger bestellbar waren als über Fresh.

Kinderkrankheiten, ja. Aber solche, von denen Experten annehmen, dass Amazon sie längst im Griff haben müsste.

Pluspunkt Kundenorientierung

In Berlin kommt die Besonderheit dazu, dass Amazon die Einkäufe erstmals von einem externen Dienstleister ohne Kühlfahrzeuge zustellen lässt (DHL) – und nicht, wie überall sonst, selbst.

(Und nur mal zur Erinnerung: Wir reden über ein Unternehmen, das bei der Eröffnung seines neuen Logistikzentrums in Berlin-Tegel im vergangenen Jahr erstmal vergessen hat, Parkplätze für die Transportfahrzeuge zu schaffen, die gerade nicht im Einsatz sind.)

All das spricht überhaupt nicht dagegen, dass Amazon Fresh in Deutschland (oder anderswo) ein Erfolg werden könnte. Zumal das Unternehmen wie kein anderes verstanden hat, Angebote so zu konstruieren, dass es Kunden Spaß macht, sie zu benutzen. (Meistens, jedenfalls.)

Wie fantastisch ist das zum Beispiel, Fresh-Bestellungen bis kurz vor der Auslieferung vergessene Waren hinzu fügen zu können, indem man sie einfach in den Warenkorb legt. Das System merkt von selbst, dass sie zur nächsten Lieferung dazu sollen (siehe Screenshot)!

Aber es spricht dagegen, anzunehmen, dass der Erfolg unausweichlich ist und die etablierten Handelsketten deswegen direkt einpacken können. Weil genauso gut die Möglichkeit besteht, dass Amazon das Ding grandios in den Sand setzt, wenn es zu lange dauert, die ungewohnten Prozesse in den Griff zu kriegen.

Fotos: Supermarktblog"


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