Im Jahr 1916 erfand Clarence Saunders in Memphis, Tennessee, den Lebensmittelmarkt mit Selbstbedienung. Und die Mehrheit der etablierten Händler war sich damals sicher: Das kann nix werden (siehe Supermarktblog).
Saunders aber glaubte an den Fortschritt, an die Neugierde der Konsumenten und daran, dass sich neue Systeme auch gegen lange etablierte Gewohnheiten durchsetzen – sofern sie Kunden einen klaren Vorteil bieten. In seinem ersten „Piggly Wiggly“-Supermarkt bot Saunders gleich zwei: Produkte zu niedrigeren Preisen als der Wettbewerb. Und Zeit, viel mehr Zeit!
In Zeitungsanzeigen erklärte der Gründer, wie viel schneller „die Kundin“ ihre Besorgungen erledigen könnte, wenn sie nicht wie in den bisherigen Läden am Tresen in der Schlange warten müsse, um endlich bedient zu werden:
„This new method will make it possible for you get by the checker’s desk much quicker and without any ‚jamming‘ of folks behind you“.
102 Jahre später kaufen wir im Prinzip immer noch genauso ein wie sich Saunders das damals ausgedacht hat. Gut, nicht ganz genauso. Sondern langsamer. Weil Kunden die Zeit, die sie beim Nichtanstehen am abgeschafften Bedientresen sparen, später im Kassenstau verplempern.
Das dürfte sich bald ändern. So grundlegend, dass manche Handelsketten aufpassen müssen, es in ihrer Trägheit nicht zu verpassen. Das heißt gar nicht, dass künftig alle Läden so funktionieren, wie sich Amazon das für seinen kassenlosen Schnellsupermarkt Amazon Go ausgedacht hat.
In jedem Fall wird wird Amazons „Just Walk Out“-Prinzip aber eine Branche umkrempeln, die über Jahrzehnte darin versagt hat, das Einkaufserlebnis ihrer Kunden wesentlich zu verbessern, sobald es ans Bezahlen geht.
Kapitel I: Von Piggly Wiggly zu Lidl
Anfang des vergangenen Jahrhunderts baute Piggly-Wiggly-Erfinder Saunders gleich drei Kassentresen auf einmal in seine neuen Selbstbedienmärkte. In seiner lesenswerten Saunders-Biographie „The Rise and Fall of a Memphis Maverick“ schreibt Mike Freeman:
„Zu Stoßzeiten konnten die Angestellten mit einem Mal Kunden in mehreren Reihen abkassieren.“
Foto: Clarence Saunders/Library of Congress, Public Domain
Was heute selbstverständlich klingt, war damals eine kleine Revolution. Vor allem hat es aber funktioniert. Anders zum Beispiel als, sagen wir: im modernen Discount.
Dort stehen im Zweifel nicht mehr drei, sondern sogar sechs Kassen parat. Aber die sind, um Personalkosten zu sparen, selbst zu Stoßzeiten so gut wie nie alle gleichzeitig besetzt.
Stattdessen läuft es so:
„Sehr verehrte Kunden wir öffnen Kasse 2 für Sie. Bitte legen Sie Ihre Einkäufe auf das Kassenband“, sagt eine mechanisch klingende Stimme bei Lidl an, wenn der Mitarbeiter an der völlig überfüllten Kasse 1 nach Verstärkung klingelt. Ein zweiter Mitarbeiter unterbricht seine Arbeit im Laden, eilt an Kasse 2 und kassiert die sich umsortierenden Kunden ab. Bis sich die Anstehsituation für den Moment beruhigt: „Sehr verehrte Kunden, wir schließen Kasse 2. Bitte legen Sie keine weiteren Einkäufe aufs Kassenband.“ Der Mitarbeiter geht zurück in den Laden. An der einzigen offenen Kasse entsteht kurze Zeit darauf erneut Stau; der Mitarbeiter klingelt nach Verstärkung. Das Tanztheater geht von Neuem los: „Sehr verehrte Kunden, wir öffnen Kasse 2 für Sie.“
Ausgerechnet ein System wie der Discount, dessen Erfolg auf maximaler Effizienz beruht, leistet sich einen Kassierprozess, der ineffizienter nicht sein könnte. Er spart zwar die Personalkosten für eine zweite Kassenvollbesetzung, produziert dafür aber unnötige Laufwege für Mitarbeiter und hält sie ständig davon ab, sich auf die Erledigung einer Aufgabe zu konzentrieren. Und die Kunden reagieren genervt bis aggressiv.
Langsam merken Discounter und Supermärkte, dass das vielleicht gar nicht so schlau ist.
Manche installieren SB-Kassen, an denen die man seinen Einkauf selbst über den Scanner ziehen und eigenständig bezahlen kann – 20 Jahre, nachdem Kassenhersteller NCR den Dinosaurier unter den SB-Kassen in einem Supermarkt in Kansas installierte.
Foto: NCR
Selbstverständlich sind die Geräte heute deutlich schlanker. Und mit intelligenter Produkterkennung ausgestattet, um den Scanprozess z.B. für Obst und Gemüse zu beschleunigen.
Aber das ändert nichts daran, dass die SB-Kassen allenfalls für kleine und mittlere Einkäufe geeignet sind – und bei größeren sofort wieder massive Staus produziert werden.
Dazu will die Skepsis gegenüber neuen Kassensystemen bei vielen Kunden nicht so recht verfliegen. Im Rewe-Mitarbeitermagazin „One“ hat Rewe-Vertriebsleiter Michael Krüger gerade erzählt, wie man einen übernommenen Kaiser’s-Markt in Berlin-Charlottenburg wegen des niedrigen Durchschnittsbons bei der Modernisierung komplett auf „Expresskassen“ umgestellt hat:
„Das haben uns die Kunden so übelgenommen, dass wir die Entscheidung schnell wieder revidiert und zusätzliche normale Kassen eingebaut haben.“
(Was, ehrlich gesagt, an besagtem Standort kein Wunder ist.)
Dabei sind die deutschen Supermärkte selbst dafür verantwortlich, dass ihre Kunden so ablehnend auf neue Lösungen reagieren – weil die Erfahrung zeigt, dass viele Neuerungen gar nicht so praktisch sind, wie sich das Händler und Technikhersteller lange gegenseitig eingeredet haben.
Kapitel II: Exit Tunnelscanner
Im Jahr 2009 präsentierte der Konzern Wincor Nixdorf (heute: Diebold Nixdorf) auf der Düsseldorfer Handelstechnikmesse EuroCIS ein fast fertiges Gerät, welches das Scannen von Produkten an der Kasse ein für alle Mal vollautomatisierten sollte. Kunden legten ihre Einkäufe aufs Band, das die Artikel durch einen mit Scannern und Sensoren vollgestopften Tunnel fuhr, ohne dass ein Mitarbeiter sie noch einmal in die Hand nehmen musste.
2010 testete die Supermarktkette Kroger in den USA ein erstes Gerät in der Praxis, im Jahr darauf folgte Rewe in Deutschland. „Weltneuheit in Zülpich!“, stand auf dem Schild über dem Kassenkoloss in dem 50.000-Einwohner-Städtchen, und Rewe prognostizierte euphorisch „eine neue Generation des automatischen Scannens“:
„Diese völlig neue Technologie wird, wenn sie den Praxistest erfolgreich besteht, die Kassenprozesse beschleunigen und Warteschlangen erheblich reduzieren.“
Mitarbeiter im Markt könnten „von der zeitraubenden und körperlich anstrengenden Warenerfassung entlastet“ werden und „sich verstärkt dem Kundenservice widmen“.
Ähnliches versprach sich vermutlich auch Lidl, als 2014 in einer schwedischen Filiale ein vergleichbares Modell des Herstellers ITAB getestet wurde. Um die Ware nicht nur am Barcode, sondern im Zweifel auch am Gewicht und der Optik zu erkennen, seien „im Tunnel neben einer Waage und Bildprozessoren sogar Spektroskope zur Oberflächenanalyse von Obst und Gemüse versenkt“, berichtete die „Lebensmittel Zeitung“ (Paywall).
(Auf den Fotos unten sind Modelle unterschiedlicher Hersteller auf der EuroCIS 2012 und der Euroshop 2014 zu sehen.)




Das war in der Tat alles hochmodern. Aber auch ein ziemliches Desaster.
Nicht nur, weil der Koloss allen Technikschikanen zum Trotz Mühe hatte, zum Beispiel verschiedene Apfelsorten voneinander zu unterscheiden; sondern vor allem, weil es den Kassiervorgang für Kunden gar nicht vereinfachte.
Im Rewe-Testmarkt musste frische Ware plötzlich wieder in der Obst- und Gemüse-Abteilung gewogen werden. Getränkekisten passten nicht durch den Tunnel und wurden per Handscanner extra erfasst. Am Ende zahlte man doch wieder bei einem Mitarbeiter an der Kasse.
Anders im Lidl-Testmarkt: Dort mussten Kunden ihren Einkauf mit einem automatisch generierten Bon an einem separaten Automaten begleichen (regelmäßige Blog-Leser kennen das System aus der Reihe „Zukunftstechniken der Vergangenheit“), um mit der daraufhin generierten Quittung den Markt verlassen zu dürfen.
Auch an eine Beschleunigung des Kassierprozesses war nicht zu denken. In der Theorie schafften die Tunnelscanner zwar 60 Artikel in der Minute – aber so schnell konnten die meisten Kunden ihren Einkauf gar nicht aufs Band legen. (40 Artikel in der Minute erwiesen sich im Praxisbetrieb als realistischer.)
Um das Problem zu umgehen, schaffte die britische Supermarktkette Tesco 2014 eine noch sehr viel monströsere Variante der ohnehin schon riesigen Geräte an – inklusive eingebautem Förderbandkreisverkehr (siehe Supermarktblog). Hersteller NCR lobte:
„[D]ie Checkout-Einheit [verteilt] den Einkauf dank einer rotierenden Drehscheibe und einer neu gestalteten Sammelstation für gescannte Waren gleichmäßiger im Verpackungsbereich und verarbeitet eine größere Menge an Waren.“
Danach ist es erstaunlich still geworden um die vermeintliche Revolution. (Oder wie es das EHI-Fachmagazin „Retail Technology“ bereits vor zweieinhalb Jahren zusammenfasste: „Seit 25 Jahren basteln Technologie-Hersteller an solchen Geräten. Praxistauglich sind sie bisher nicht.“)
2013 brachte Ralf Schienke vom Kassenhersteller Fujitsu Technology Solutions den Schlamassel auf den Punkt: Tunnelscanner ergäben nur als „Autobahn“ Sinn (PDF).
„Das heißt: auch der Kunde muss sein Tempo erhöhen, wenn die Investition für den Händler aufgehen soll.“
Anders gesagt: Über viele Jahre hat die Industrie daran gearbeitet, eine Technologie zu perfektionieren, die Kunden das Bezahlen ihres Einkaufs gar nicht angenehmer macht, sondern sie dabei bloß stärker unter Druck setzt. Diese Rechnung ist – verständlicherweise – nicht aufgegangen. Und (nicht nur) Zülpich ist wieder um eine „Weltneuheit“ ärmer. Auf Supermarktblog-Anfrage bestätigt Rewe:
„Der eine Tunnelscanner ist zwischen 2011 und 2013 hinsichtlich seiner Praxistauglichkeit im Gesamtprozess getestet worden. Die Erwartungen haben sich jedoch letztlich nicht erfüllt, weshalb er dann auch wieder abgebaut wurde.“
Währenddessen bereitet sich die nächste Kassenrevolution aufs Aussterben vor: Mobile Scan & Go.
Darum geht’s im zweiten Teil der Supermarktblog-Kassenserie, der in der kommenden Woche erscheint.
Danke an Mats für das Rewe-SB-Kassen-Foto!
Titelfoto: Rewe (Archiv), Fotos (wenn nicht anders gekennz.): Supermarktblog
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Der Beitrag Sterben die Supermarktkassen aus? Teil 1: Kein Licht am Ende des Tunnelscanners erschien zuerst auf Supermarktblog.