An Hiobsbotschaften für den klassischen Handel herrscht wahrlich kein Mangel, seitdem Amazon vor fast drei Jahr angekündigt hat, eigene Supermärkte ohne Kassen eröffnen zu wollen, in denen niemand mehr Schlange stehen muss (siehe Supermarktblog). Über 150 Filialen sollten bis Ende 2020 eröffnen, zitierten Medien aus internen Plänen; Amazon dränge zunehmend in die Innenstädte, auch an Flughäfen; es könne nicht lange dauern, bis die neue Technologie auch bei Amazons Biomarktkette Whole Foods zum Einsatz kommen.
Nichts davon ist bislang eingetreten; knapp zwei Jahre nach dem (verzögerten) Start gibt es gerade einmal 16 Go-Stores in wenigen amerikanischen Städten; ein paar mehr sind angekündigt. Und vermutlich aus Langeweile sind zahlreiche Journalisten dazu übergegangen, Go schon als Flop einzustufen.
Das wäre wahrscheinlich ein bisschen voreilig.
Zum einen, weil Amazon mit seiner Entwicklung tatsächlich neue Maßstäbe für die Branche gesetzt hat: u.a. Albert Heijn testet in Kooperation mit der niederländischen Bank ING aktuell ein ganz ähnliches Konzept für Miniläden, die ohne Kasse auskommen. Und zum anderen, weil noch gar nicht so richtig absehbar ist, welches Potenzial Amazon Go tatsächlich haben wird. (Auch nicht für Amazon.)
I. Das Experiment
Der bislang vielleicht interessanteste Text zum Thema ist vor einigen Monaten in „Bloomberg Businessweek“ erschienen. Darin geht es weniger um das, was Go in Zukunft sein könnte; sondern darum, wie das Projekt zustande gekommen ist (hier auch zum Anhören). Ausgangspunkt war, die Lösung für ein Problem zu finden, dass der klassische Handel – aus seiner Sicht – längst gelöst hatte.
Das Problem: Kund:innen kaufen eigentlich ganz gerne in stationären Läden ein, aber sie hassen Schlangestehen an der Kasse.
Die (vermeintliche) Lösung: Problem ignorieren. Ist ja nicht so, dass die Kund:innen eine Wahl hätten.
Das hat Amazon herausgefordert. „We realized that there’s a lot of good things about shopping in physical stores, but waiting in lines was not one of them“, lässt sich Dilip Kumar, Technikberater von Amazon-Gründer Jeff Bezos, in „Businessweek“ zitieren. Das zu ändern, hat nicht nur viele Millionen Dollar gekostet, die in die Entwicklung und Kombination neuer Technologien geflossen sind; sondern vor allem: Zeit.
Sieben Jahre hat ein Team in Seattle an Go getüftelt. Der erste Prototyp in einer Fabrikhalle wurde noch auf 1.400 Quadratmetern gebaut, um das Grundprinzip zu testen. Aber ziemlich schnell war klar: Das ist zu groß. (Ursprünglich war sogar mit der doppelten Quadratmeterzahl geplant worden.) Der erste Amazon Go, der seit Anfang 2017 in Seattle für alle Prime-Mitglieder zugänglich ist, war schließlich nur noch ein Viertel so groß.
Und vieles spricht dafür, dass das damals für Amazon nicht der Endpunkt der Entwicklung von Go war – sondern eher ein notwendiger Zwischenschritt, um zu beurteilen, wie sich das System im täglichen Live-Betrieb bewährt.
Wer in einem der wenigen Go-Stores einkauft, der merkt schnell, dass das Format für den Konzern vor allem work in progress ist – auch wenn der Fokus zunehmend klarer wird.
Zum Beispiel in New York City, wo in diesem Jahr die ersten drei Go-Filialen eröffnet haben, die allesamt nochmal deutlich kleiner sind als das Original in Seattle (und mit ca. 130 qm nur noch ein Zehntel so groß wie der ursprüngliche Pilot). Aber mit der unübersehbaren Tendenz, das Konzept endgültig so zu schärfen, dass es sich für eine schnelle Expansion eignet.
Um das zu schaffen, bedient sich Amazon ausgerechnet bei einer Strategie, die im deutschen Lebensmitteleinzelhandel nur allzu gut bekannt ist – weil die beiden Discounter Aldi und Lidl damit groß und erfolgreich geworden sind (selbst wenn sie heute zunehmend davon abweichen). Die Strategie heißt: maximale Standardisierung. In New York City funktioniert Amazon Go ziemlich eindeutig als Mischung aus Sandwich Shop und Convenience Store – als sei Pret A Manger mit einem 7-Eleven zusammengestoßen.
II. Die Realität
Standorte und Struktur: Nix für Touristen
Anders als mit seinen Amazon-Books-Läden und dem Krempelgeschäft Amazon 4 Star hat sich der Konzern für den Go-Auftakt in Manhattan keine typischen Touristenlagen gesucht, sondern Orte, an denen es potenzielle Kund:innen tatsächlich sehr, sehr eilig haben – weil sie auf dem Weg ins oder aus dem Büro sind bzw. ihre Mittagspause nicht unnötig mit Schlangestehen verbringen wollen: im Brookfield-Place-Center gegenüber vom One World Trade, an der 53. & Lexington, in der Park Avenue.



Was direkt auffällt, wenn man alle drei Läden nacheinander besucht, ist: Wer sich einmal im ersten zurechtgefunden hat, weiß in den anderen schon fast automatisch, wo alles steht.
Die Läden in der Park Avenue und am Brookfield Place (wo auch Bargeldzahlungen akzeptiert werden, um Vorwürfen einer Diskrimination entgegen zu treten) sind fast identisch. Beide bestehen im Grunde nur aus drei langen Regalreihen mit dazwischen gebauter Kühlung. Wer den QR-Code in seiner Go-App an der Eingangsschranke gescannt hat …
… und eingelassen wurde, steht zuerst vor Salaten, Sandwiches, Bowls und Snacks, die für den Sofortverzehr bestimmt sind. Getränke gibt’s dazu, Süßwaren und Chips ebenfalls in Griffweite. Auf dem Weg in den Laden hinein positioniert sich Amazon Go ganz klar als Lunch-Anbieter.
Auf dem Rückweg folgen Sortimente, die man eher von einem kleinen Bodega, den klassischen New Yorker Ecksupermärkten, erwarten würde: Milch und Joghurt, Käse und Wurst, Orangensaft und Eiscreme, Kaffee und Tee, Taschentücher und Zahnpasta, Deo und Rasierer. Was man halt so braucht, um den Tag im oder nach dem Büro zu überleben.
Das Sortiment ist weder besonders groß noch besonders spektakulär – aber ziemlich perfekt abgestimmt auf die Bedürfnisse, die Kund:innen am jeweiligen Standort haben (könnten). (Eine kleine Merchandise-Ecke mit Amazon-Go-Tassen und Amazon-Go-Schokolade als Mitbringsel gibt’s auch.)
Kooperationen: Starbucks, Coca-Cola – und die lokale Bäckerei
Außerdem hat sich Amazon mit lokalen Herstellern zusammengetan: z.B. Ess-A-Bagel, das mit seinen frisch gebackenen (verpackten) Bagels ein halbes Regal belegen darf – Töpfchen mit Cream Cheese zum Selberdraufstreichen stehen im Kühlregal nebenan; und Magnolia Bakery bzw. Dominique Ansel, die eine Auswahl an fantastisch aussehenden Cookies, Cupcakes und Pastrys beisteuern.
Stolz listet Go die „Local NY Favorites“ auf schwarzen Tafeln im Laden auf – und kann sich mit dem Best-of leicht von jedem Standard-Convenience-Markt abheben. Auf weiteren Tafeln steht:
„Yes, you can get real bagels here.“
„Local food you can get faster than the local train.“
„New York favourites in a New York minute.“
(Eine ähnliche Kooperationstaktik verfolgte man ursprünglich ja bereits beim Aufbau des Lebensmittel-Lieferdienst Fresh; zumindest in Deutschland ist die Kooperation mit lokalen Läden aber ziemlich eingeschlafen.)
Gleichzeitig arbeitet Amazon für Go mit zwei der wichtigsten Marken der Branche zusammen. Erstaunlich ist vor allem die Kooperation mit – Starbucks. „We always wanted to be on every corner, [w]e wanted to be as common as Starbucks”, zitiert „Bloomberg Businessweek“ einen ehemaligen Amazon-Mitarbeiter, der an der Go-Entwicklung beteiligt war. Davon ist das Projekt freilich noch meilenweit entfernt – also wieso nicht einfach mit dem Vorbild gemeinsame Sache machen?
Mit Allegro verfügt Amazon eigentlich über eine eigene Kaffeemarke, die man auch bei Go zum Zuge hätte kommen lassen können. Der Vorteil von Starbucks ist aber natürlich, dass die Marke niemandem mehr erklärt werden braucht. In der Park Avenue können sich Go-Kund:innen an einer in den Laden integrierten Kaffeetheke selbstbedienen.
Zur Erinnerung steht nochmal dabei:
„Grab a paper cup or use your own. Serve yourself and go. (Really, just go.) Coffee will appear on your receipt.“
Die jüngste Go-Filiale an der Ecke 53. & Lexington weicht etwas vom Layout der beiden anderen ab – weil sie eher in die Breite gezogen ist und den Blick durch große Fenster auf die Straße erlaubt. Dass zwei Regale querstehen, ändert aber nichts daran, dass man sich als vormalige Go-Kundin bzw. vormaliger Go-Kunde direkt orientiert fühlt.
Neben der Starbucks-Kaffeetheke ist zudem Platz für einen „Freestyle“-Automaten des zweiten Marken-Partners gewesen: Coca-Cola.
An diesem lässt sich per Display ein Großteil der des angebotenen Softdrink-Sortiments auswählen, selbst zapfen und nach Wunsch kombinieren. Lieber nur koffeinfreie oder zuckerfreie Varianten anzeigen? Auch kein Problem.
Standardisierung: Grüße vom deutschen Discount
Nochmal zusammengefasst: In New York City hat Amazon sein Go-Konzept so standardisiert, dass es in fast identischer Sortimentsabfolge an unterschiedlichen Standorten funktioniert, ohne dass dafür größere Anpassungen nötig wären. Je nach verfügbarem Platz kann Go als Mischung aus Convenience-Markt und Snack Shop 1.) mit „nacktem“ Grundsortiment (Brookfield Place), 2.) mit zusätzlichem Kaffeetresen (Park Avenue) oder 3.) mit Kaffeetresen, Softdrinkautomat und Amazoon Lokcer im Vorraum (53. & Lexington) umgesetzt werden – an jedem Standort, der halbwegs den Voraussetzungen entspricht, um die notwendige Technologie einzubauen (hohe Decken sind wichtig, um die Technik einzubauen). Diese Standardisierung in drei Dimensionen ist auch die notwendige Voraussetzung für die – schon länger angestrebte – Blitzexpansion.
Dazu passt, dass Reuters im vergangenen Jahr meldete, Amazon interessiere sich im Zuge der Go-Expansion für Verkaufsflächen an Flughäfen. CNBC will erfahren haben, dass sich der Konzern bereits in Verhandlungen mit Unternehmen befinde, die Shops an solchen Standorten betreiben und die Go-Technologie in Lizenz erwerben könnten. Außerdem seien Kinos und Baseball-Stadien als Standorte interessant.
Nicht über allen Läden müsste zwangsläufig „Amazon Go“ stehen. Aber es wäre vermutlich nachlässig, zu unterschätzen, wie sehr das Konzept Amazon bei der schwierigen Selbstprofilierung im Markt für (frische) Lebensmittel helfen könnte, den das Unternehmen schon seit Jahren zu knacken versucht. Wie praktisch, dass vieles, das dafür notwendig wäre, bei Go schon angelegt ist.
Eigenmarken: Amazon als Lunch-Anbieter
Amazon nutzt die Marke nicht nur als Namen für seine kassenlosen Läden, sondern auch für (im eigenen Auftrag hergestellte) Convenience-Produkte, die es bereits es in ganz erstaunlicher Zahl zu kaufen gibt: Salate, Sandwiches, Antipaste-Boxen, Bowls, Wraps und Ready Meals.
Ursprünglich sollten die Mahlzeiten zum Mitnehmen in angeschlossenen Küchen hergestellt werden (so wie in Seattle); Bloomberg zufolge hat sich Amazon im Laufe der Zeit aber teilweise umbesonnen und beauftragt inzwischen auch Dritte mit der Herstellung. (An den New Yorker Standorten wäre sonst auch gar kein Platz für eigene Küchen.)
Die entwickelten Rezepte sind ziemlich konkurrenzfähig mit dem, was etablierte Fast-Casual-Ketten ihren Gästen für die Mittagspause anbieten.
Es gibt: Rote-Beete Poke-Power-Bowl mit Tofu, Brokkoli-Crunch-Power-Bowl mit Hähnchen, Nicoise-Salat mit Beef Steak, Chicken-Bahnhio-Mi-Sandwich, Middle Eastern Veggie Flatbread, Pesto Zoodle Power-Bowl mit Shrimps, Vietnamese-Style-Salat mit gegrillter Hähnchenbrust, Süßkartoffel-Avocado-Mole-Wrap, Mexican-Style Street Corn Salad und einen simplen Go-Beilagensalat mit Ziegenkäse, Datteln und Kürbiskernen.
Bislang wird Amazons Kompetenz als Lunch-Anbieter weitgehend unterschätzt (siehe holyEATS) – aber natürlich läge es nahe, die Mini-Mahlzeiten nicht bloß Go-Kund:innen zugänglich zu machen, sondern sie auch per Prime Now nachhause oder an den Arbeitsplatz zu liefern. Was auf lange Sicht auch Schnellgastronomie-Anbietern Kopfschmerzen bereiten könnte.
Preise: Bequemlichkeit soll nicht teurer sein
Spätestens beim Blick auf die Preisschilder wird klar, wie sich Amazon Go zu positionieren versucht. Frische Wraps und Salate kosten ähnlich viel wie bei Pret A Manger, nämlich mehrheitlich unter 10 Dollar (wobei verschiedene Kombinationen möglich sind, die tatsächlich auch satt machen). Mit seinem übrigen Sortiment positioniert sich Go tendenziell am unteren Rand des Supermarkt-Preisspektrums. Der Joghurt ist – mitten in Manhattan – günstiger als in so manchem Corner Shop in Brooklyn; Starbucks-Kaffee gibt’s zum Kampfpreis (1,85 Dollar); und die „Fountain Drinks“ aus dem Soda-Automaten (99 Cent) kosten weniger als der Softdrink in der Plastikflasche.
Offensichtlich ist es für Amazon von großer Bedeutung, dass Go-Kund:innen ihren kassenlosen Schnelleinkauf nicht damit verbinden, für die Bequemlichkeit draufzahlen zu müssen – im Gegenteil.
Diese Strategie dürfte auch mitverantwortlich dafür sein, dass die Umsätze vieler Go-Filialen bislang weit unter den Erwartungen liegen, wie „The Information“ (Abo) kürzlich meldete.
Probleme: Einkauf ohne sensorisches Erlebnis
Das ist zwar lange nicht das einzige Problem, das Amazon noch ausbügeln muss – aber halt doch ein wesentliches. Durch ihre Lage in Büro-Gegenden werden die drei New Yorker Filialen derzeit vor allem zur klassischen Mittagszeit von Kund:innen bestürmt. Davor und danach herrscht zum Teil gähnende Leere. Das ist schlecht fürs Geschäft – und hat einen wenig hilfreichen Nebeneffekt.
Um nicht zuviel Überschuss zu produzieren, sind viele frische Salate und Sandwiches nach dem Mittag bereits ausverkauft. „So good it’s gone“, versucht ein Schild über die Lücke hinwegzutrösten – die auch nicht so leicht wieder gefüllt werden kann, weil Amazon ja auf direkte Anschlussküchen verzichtet. Das führt dazu, dass nachmittags in manchen Regalen mehr Schilder als Produkte stehen.
Und dass man sich’s nächstes Mal zweimal überlegt, seinen späten Hunger zu Amazon Go zu tragen weil die Chance groß ist, dass der Lieblingswrap ja ohnehin nicht mehr da ist.
In der Theorie mag es auch eine gute Idee gewesen sein, ein ganzes Go-Regal für Amazon Meal Kits zu reservieren, in dem sämtliche Zutaten für ein 2-Personen-Menü zum Selberkochen enthalten sind. Laut „The Information“ scheint sich die Kochbegeisterung in der Business-Zielgruppe aber stark in Grenzen zu halten; ohnehin kommen die wenigsten bislang nach Feierabend nochmal in die Stores. Amazon überlegt deshalb wohl, die Meal Kits aus dem Angebot zu streichen.
Vermutlich ließe sich der frei werdende Platz besser nutzen. Bislang wirken die Filialen dank der einfachen Regale mit den schwarzen Blenden, den weißen Kacheln und den holzverkleideten Schmuckwänden zwar angenehm unaufdringlich und schlicht. Damit die vielen Kameras, Sensoren und Waagen die herausgenommenen Artikel auch richtig erkennen und zuordnen können, sind die allermeisten Produkte aber so akkurat in die Regale geräumt, dass sie dort fast verschwinden.
Alles, wirklich alles ist ins Plastik verpackt, auch das (vorportionierte) Obst und Gemüse.
Dadurch fehlt Amazon Go zwangsläufig die Emotionalität, die klassische Supermärkte ganz selbstverständlich nutzen, um Kund:innen Lust aufs Einkaufen zu machen. Nix duftet, glänzt, strahlt.
Amazon Go ist quasi die Antithese zum sensorischen Einkaufserlebnis, das viele Kund:innen nach wie vor so schätzen (und auch deshalb eher zögerlich online Lebensmittel bestellen). Viel mehr noch als alle übrigen Herausforderungen dürfte das eines der Kernprobleme des Formats sein.
Offensichtlich gibt es aber bereits Pläne, das Sortiment in den kommenden Monaten zu ergänzen, z.B. mit Blumen, losem Obst und Gemüse, frischen Backwaren.
Ob und wie sich das mit der existierenden Technologie (die ja sprichwörtlich Äpfel von Birnen unterscheiden können muss) einrichten lässt, wird ein wichtiger Test dafür, wie relevant Amazon Go als Schnellversorger-Supermarkt in Zukunft sein kann.
Technologie: Nie mehr anders einkaufen
Oh, fast vergessen. Die eigentliche Stärke von Amazons kassenlosem Supermarkt ist natürlich: seine Kassenlosigkeit. Und bei aller Kritik, die man an der Umsetzung haben kann: Für sich genommen ist das Grab-and-Go-Prinzip – fantastisch.
Ja, Amazon treibt einen unfassbaren (Material-)Aufwand, um ein Problem zu umgehen, von dem man sagen könnte, dass es sich irgendwie schon ertragen ließe (insbesondere in den USA, wo Kassenwarteschlangen mit ungeheurem Personaleinsatz schnellstmöglich wieder abgebaut werden). Man muss ja bloß an die Decke gucken, um zu ahnen, wieviele Technologie zum Einsatz kommen muss, um das den Kund:innen gegebene Versprechen einzulösen.
Und natürlich ist es ein komisches Gefühl, auf Schritt und Tritt sensorisch erfasst zu werden, um den Einkauf registriert zu kriegen.
Zugleich ist Go aber halt auch ein Erlebnis, das man so schnell nicht mehr missen möchte, wenn man sich einmal dran gewöhnt hat: In den Laden gehen, Salat, Getränk und Nachtisch aus dem Regal nehmen, rausgehen.
Ein paar Minuten danach meldet die App per Smartphone-Push: „Your receipt is ready“ und listet die gekauften Artikel untereinander auf.
Screenshots [M]: Supermarktblog
Stimmt mal was nicht, kann das über den digitalen Kassenzettel in der App reklamiert werden. Offensichtlich muss man sich dafür aber sehr anstrengen: Selbst wenn man zu zweit auf demselben Account unterwegs ist, mehrfach Artikel greift und wieder zurücklegt, Artikel untereinander austauscht, Kaffee und Softdrink zapft und all das in unterschiedliche Taschen wegsortiert, lässt sich die Warenerfassung nicht aus dem Konzept bringen. (Kostüm hab ich zugegebenermaßen keins angezogen und auch keinen Schirm mitgenommen bzw. aufgespannt; aber derartige Irritationsversuche hat Amazon Medienberichten zufolge ja ausführlich durchgetestet.)
Die Vorstellung, dass zumindest Teile des stationären Einkaufs von Lebensmitteln (oder anderen Dingen des täglichen Bedarfs) zukünftig so ablaufen könnten, ist – faszinierend. Auch wenn es so schnell wohl kaum dazu kommen wird.
III. Die Strategie
Wie passt Go in Amazons Pläne für den Lebensmittelhandel?
Unabhängig davon steht fest: Amazon Go ist (noch) nicht der große Wurf, den Öffentlichkeit – und vor allem Medien – bei der Vorstellung des Konzepts erwartet hatten. Gleichzeitig lässt sich nicht bestreiten, dass es überhaupt erst zustande gekommen ist, weil Amazon bereit war, eine Idee zu entwicklen, anzufangen, auszuprobieren, sich zu irren, daraus zu lernen und weiterzumachen.
Das ist alles andere als selbstverständlich im Lebensmitteleinzelhandel, in dem viele Akteure am liebsten den Status Quo erhalten würden, um sich nicht zuviel Umstände zu machen.
Ähnlich wie das Bonusprogramm Prime scheint Go für Amazon ein Projekt zu sein, das sich vorerst in einer Art Dauerentwicklung befindet – und dabei hilft, Kund:innen generell ans Amazon-Universum zu binden bzw. dort zu halten.
Diskussionen über eine fehlende Vision für das Konzept kann ich nicht ganz nachvollziehen: In Amazons Bestreben, eine zunehmend größere Rolle im Handel mit (frischen) Lebensmitteln zu spielen, wäre Go ein hervorragendes Konzept am einen Ende des stationären Ladenspektrums, mit den bislang immer noch sehr viel klassischer funktionierenden Whole-Foods-Märkten am anderen Ende – und vor allem: genügend Platz dazwischen, um eine dritte Lösung mit starkem Vorbestell- und Abholschwerpunkt zu etablieren, über die kürzlich bereits die „New York Times“ spekuliert hat.
Das „Wall Street Journal“ (Abo) meldete gerade erste Anmietungen im Großraum Los Angeles: Amazon habe für sein neues Format mehr als ein Dutzend Verträge abgeschlossen (u.a. für einen ehemals von Toys’R’Us genutzten Standort), mehrheitlich in dicht besiedelten Vorstadtlagen mit um die 3.000 Quadratmetern Fläche. „Grocery Dive“ fragt sich, ob in diesem Zuge womöglich Amazon Fresh zum „physical-digital crossover“ werden könnte.
Platz für Zubereitungsküchen wäre auf den größeren Flächen auch; ebenso wie für Go-Abteilungen für die ganz eiligen Kund:innen. Erste Eröffnungen seien schon zu Beginn des kommenden Jahres möglich, meint das „Journal“.
Die eigentliche Herausforderung
Um Go ein für allemal in den Mainstream zu rücken, muss Amazon das Format aus der Nische herausholen, in die der Konzern es selbst hinein navigiert hat. Dann hätte die Technologie nicht nur das Potenzial, sich im Lunch-Alltag möglichst vieler Großstädter zu etablieren, sondern auch, den Einkauf von wenigen Artikeln des täglichen Bedarfs für den sofortigen Gebrauch bzw. Verzehr grundlegend umzuformen. (Muss ja nicht gleich einen Laden an jeder Ecke geben, so wie bei Starbucks.)
Die eigentliche Herausforderung für Amazon dürfte ohnehin darin bestehen, sich auf die von Land zu Land höchst verschiedenen Gegebenheiten im stationären Handel einzustellen, um geeignete Verkaufsflächen zu finden (hohe Decken? in der Londoner Innenstadt?) und wirklich eine Alternative zu den etablierten Handelsketten zu werden. Dazu gehört auch, sich auf die landesspezifischen Gewohnheiten der Kund:innen einzustellen, wie es selbst Aldi und Lidl mit ihren durchformulierten Discount-Konzepten nicht erspart geblieben ist. Das wird keine leichte Aufgabe. Und ist vermutlich auch der Grund, warum die Handelsbranche sich seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr auf eine echte Formatinnovation einstellen musste.
Wenn Amazon mit Go erfolgreich ist, könnte sich das ändern. Aus Kund:innensicht wäre es dafür auch allerhöchste Zeit.
Dank an Diana und Max für die gute Bewegtbild-Vorbereitung!
Foto Seattle: Amazon, alle übrigen Fotos: Supermarktblog
- Wie Amazon Whole Foods zum Prime-Supermarkt macht (und was das für den übrigen Handel bedeutet)
- Sterben die Supermarktkassen aus? Teil 1: Kein Licht am Ende des Tunnelscanners
- Sterben die Supermarktkassen aus? Teil 2: Ausweitung der Scan-Zone
- Sterben die Supermarktkassen aus? Teil 3: Elektronisches Preisschild sucht flüchtigen Kundenkontakt
Den regelmäßigen Blog-Newsletter abonnieren.
Schön, dass Sie hier sind! Darf ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten?
Das Supermarktblog berichtet kritisch und unabhängig über den Lebensmittelhandel in Deutschland. Einnahmen aus Sponsorings und Werbung sichern den Basisbetrieb. Im Laufe der Zeit ist der Aufwand für das Projekt jedoch deutlich gestiegen.
Die regelmäßige Unterstützung der Blog-Leser hilft mir dabei, ausführliche Analysen und Hintergrundartikel zu recherchieren, die nicht ins Themenraster klassischer Medien passen müssen. Machen Sie mit? Geht schon ab 2 Euro im Monat und dauert nur eine Minute. Herzlichen Dank!
Der Beitrag Amazon Go ist bereit für die Expansion. Und nimmt sich dafür ausgerechnet den deutschen Discount zum Vorbild erschien zuerst auf Supermarktblog.