Die Verschnaufpause ist vorüber: Parallel zur steigenden Zahl der Corona-Infektionen in Deutschland fällt erneut die der verfügbaren Zeitfenster diverser Lebensmittel-Lieferdienste.
- Rewe kann in Berlin aktuell wieder nur mit mehreren Tagen Vorlauf liefern.
- Amazon Fresh schaltet Zeitfenster derzeit nur für die nächsten drei bis vier Tage frei, um zu vermeiden, dass einzelne Kund:innen auf Wochen hinaus Termine ausreservieren; dafür gibt es massive Problem mit der Verfügbarkeit u.a. von Frischware (sowie vorratskritischen Konserven). Auf der Fresh-Startseite heißt es: „Im Moment sind nicht alle Lieferfenster verfügbar.“
- Getnow fällt als Alternative komplett aus: Die Seite befindet sich seit Tagen im „Wartungsmodus“ – ob der noch mal beendet wird, ist nach der Insolvenz einer der Hauptgesellschafter unklar. Nachtrag, 17 Uhr: Getnow hat nach einer gescheiterten Finanzierungsrunde Insolvenz angemeldet.
Der deutsche Markt für Liefer-Lebensmittel gibt derzeit kein so richtig gutes Bild ab. Obwohl die Anbieter ausreichend Zeit hatten, aus dem plötzlichen Kapazitäten-Chaos im Frühjahr (siehe Supermarktblog) ihre Schlüsse zu ziehen und dazu zu lernen.
Selbst bei Picnic, das zuletzt damit kokettierte, dem unerwarteten Ansturm durch zusätzliche Effizienzmaßnahmen Herr geworden zu sein, taucht in meinem Test-Account für die aktuelle Woche gerade noch ein einziges freies Zeitfenster auf. Kurz gesagt: Die Lieferdienste werden offensichtlich zum zweiten Mal von der Nachfrage überrannt. Mit dem Unterschied, dass sie diesmal vorgewarnt sein hätten müssen.
Tesco, Asda & Co. weiten Kapazitäten massiv aus
Aus dem europäischen Ausland in den vergangenen Monaten derweil mehrere interessante Nachrichten gekommen. Das betrifft insbesondere Großbritannien, wo der Online-Lebensmittelhandel – je nachdem, welcher Studie man Glauben schenken mag – inzwischen bis zu 16 Prozent des Markts ausmacht.
Asda, das gerade von Walmart an die Issa-Brüder (EG Group) und TDR Capital verkauft wurde, kündigte an, seine Online-Kapazitäten um 40 Prozent zu steigern. Laut CEO Roger Burnley seien die für 2028 (!) veranschlagten Ziele dieses Jahr binnen weniger Wochen erreicht worden. Wettbewerber Tesco gibt an, 1,5 Millionen Bestellungen pro Woche bearbeiten zu können, was einer Verdoppelung im Vergleich zum Zeitraum vor Corona entspricht. Um der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden, wurden tausende neuer Stellen geschaffen; 10.000 Picker:innen und 3.000 Fahrer:innen werden benötigt. Ocado – dessen Joint-Venture mit M&S etwas holprig angelaufen ist, aber zuletzt erste Erfolge verzeichnen konnte – meldete wöchentliche Bestellsteigerungen von 10 Prozent seit Beginn der Corona-Krise.
Derweil hat hat E. Leclerc in Frankreich massiv in den Ausbau seiner Click-&-Collect-Option E. Leclerc Drive investiert und erzielt in diesem Jahr voraussichtlich bereits 10 Prozent seiner Umsätze damit.
Und wie die Situation im Schweizer Markt aussieht, steht bei Carpathia.
Deutschland sucht die Superstrategie
In Deutschland scheinen die großen Handelsketten weiterhin damit beschäftigt zu sein, sich erst noch die richtige Strategie für einen Markt zu überlegen, der um sie herum gerade zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate explodiert.
Die Kund:innen sollen lieber weiter in die Läden gehen, die sich die Akteure gegenseitig abspenstig machen – während sich längst abzeichnet, dass in Zukunft deutlich weniger stationäre Präsenz gefragt sein könnte, dafür aber umso bessere Strategien, diese mit einem funktionierenden Online-Geschäft zu verknüpfen. Also: vorausgesetzt, es gibt überhaupt eins.
Sämtliche deutschen Discounter sind nach wie vor davon überzeugt, dass es hilft, sich in die Ecke zu stellen und die Augen zuzukneifen, um das Gespenst der steigenden Online-Nachfrage an sich vorbeiziehen lassen zu können. Dabei müssten sie eigentlich vor allem dank ihrer Auslandstöchter längst schlauer sein.
Abhol-Einkäufe bei Aldi
In Großbritannien bietet etwa Aldi (Süd) Kund:innen seit kurzem an, Lebensmittel auf groceries.aldil.co.uk vorzubestellen und am Markt abzuholen; Mitarbeiter:innen bringen den fertig kosmissionierten Einkauf direkt ans Auto. Derzeit handelt es sich um einen Test, an den 15 Filialen angeschlossen sind. Außerdem kooperiert Aldi mit Deliveroo, um per App ausgewählte Lebensmittel von Kurierfahrer:innen zustellen zu lassen (siehe Supermarktblog). Gegenüber der BBC erklärte Aldi-UK-CEO Giles Hurley, man habe registriert, dass sich die Einkaufsgewohnheiten der Kund:innen während der Pandemie geändert hätten –
„and that we need to evolve our business to meet the new demands and we’re actively doing that.“
Viele Brit:innen sind während des Lockdowns auf die Lebensmittel-Lieferdienste der Wettbewerber ausgewichen oder haben einen Großteil ihrer Einkäufe in Wohnortnähe getätigt. Die Discounter haben deshalb weniger stark zugelegt als sie es zuletzt gewohnt waren – auch weil sie bislang über keine eigenen Online-Bestellsysteme für Lebensmittel verfügten.
In Deutschland ist die Situation nicht anders – bloß dass sich Aldi, Lidl und Kaufland hierzulande sogar mit Tests zurückhalten.
Ob sich daran etwas ändern könnte und wie der Online-Lebensmittelhandel in Deutschland in den kommenden Jahren zum Kampf der Systeme werden könnte, steht im Laufe der Woche hier im Blog.
Titelfoto [M]: Supermarktblog

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Der Beitrag Nix dazu gelernt? Der deutsche Online-Lebensmittelhandel ist auch für den zweiten Corona-Kundenansturm nicht ausreichend gewappnet erschien zuerst auf Supermarktblog.