In diesem Jahr hat die Digitalisierung einen entscheidenden Fehler begangen, als sie mal wieder beim deutschen Lebensmitteleinzelhandel angeklopft hat – nur aus Jux natürlich, aufgemacht hat der ja bisher eh nie. Diesmal überraschenderweise schon. Also saß man sich eine Weile schweigend in der Küche gegenüber, Tässchen Tee?, der Handel hat erst mit den Schultern gezuckt und die Digitalisierung dann einfach dabehalten.
Seit einigen Monaten mühen sich Händler und Konzerne nun verstärkt, die Smartphones ihrer Kundschaft mit Applikationen zu fluten, die zumindest vordergründig bessere Einkaufserlebnisse versprechen. Es gibt Apps für den Ladeneinlass, als Einkaufschip, zur Vorbestellung, als Sammelkarte, Ersatzkasse und Geldbörse.
Dem liegt natürlich ein furchtbares Missverständnis zugrunde. Weil nicht alles, was in eine App passt, deshalb automatisch nützlich oder zeitgemäß ist. Sondern im Zweifel halt auch: überflüssig. Es wird Zeit, das mal auseinander zu sortieren.
1. Die Unübersichtlichen
Seitdem mit Lidl auch ein der übertriebenen Innovation sonst unverdächtiger Discounter ins Digital-Coupon-Business eingestiegen ist (siehe Supermarktblog), lässt es sich nicht mehr leugnen: Rabatte per App sind – mit wenigen Ausnahmen – inzwischen ein Muss im hiesigen Lebensmitteleinzelhandel, auch bei denen, die ohnehin schon billig sind.
Während Penny und Netto (ohne Hund) die meist wöchentlich wechselnden Coupons in ihre Haupt-Apps eingebunden haben, leistet sich Lidl zur Kund:innenbelohnung mit Lidl Plus ein separates digitales Beiboot.
Das ist natürlich nichts gegen den Wald an Smartphone-Downloads, den sich die Genoss:innen von Edeka in die App Stores gepflanzt haben. Zusätzlich zur Standard-Edeka-App, die „Angebote & Gutscheine“ verspricht, und mancher Individuallösung selbstständiger Kaufleute gibt’s Edeka Genuss+ für „Mobile Coupons und Gutscheine“, womit sich Genusspunkte sammeln und DeutschlandCard-Coupons aktivieren lassen, wenn man gerade nicht damit beschäftigt ist, „Bronze-, Silber oder Goldstatus“ zu erreichen – und natürlich nur „in teilnehmenden Märkten“, die Sie vorher bitte abgeprüft haben müssten. (Wenn sie auch noch per App selbst scannen wollen, gibt’s dafür ein kleines Zusatzwäldchen.)
Konkurrent Rewe verfügt derweil eigentlich über eine ganz praktische Allzweck-App, die Marktsuche, Angebote, Coupons und sogar den Online-Einkauf miteinander kombiniert – wer allerdings sämtliche Vorteile ausschöpfen will, muss sich zusätzlich Rewe Angebote & Coupons zulegen.
In besagter App lassen sich nicht nur dieselben Coupons wie in der Haupt-Version sowie die Vorteile des Kundenbindungsprogramms Payback freischalten, sondern über die digitale „Vorteilskarte“ im Hauptmenü auch aktionsgebundene Treuepunkte sammeln, die sonst an der Kasse als Miniaufkleber ausgegeben werden, um damit später Spielwaren oder Haushaltswaren zu vergünstigten Preisen zu erwerben.
Das digitale Treuepunktesammeln klappt derzeit aber nur testweise in Berliner Märkten, und Sie müssten ein bisschen aufpassen, dass sie da nicht durcheinander kommen, denn die digitale „Vorteilskarte“ (einem von der App generieren QR-Code) lässt sich lediglich an regulären Kassen im Markt scannen, nicht aber an den SB-Varianten. Noch komplizierter wird’s, wenn Sie zwischendurch beim Rewe Lieferservice bestellen, der bringt nämlich weiter Analogklebepunkte mit, und Sie brauchen erst gar nicht zu versuchen, die aufs Display Ihres Smartphone zu pappen, weil Rewe in schönstem Beamtendeutsch aufklärt:
„Eine Übertragung der in der REWE App gesammelten digitalen Treuepunkte in ein klassisches Sammelheft findet nicht statt.“
(Andersherum geht’s auch nicht.)
Ist doch praktisch, das mit den digitalen Rabatten, ne?
2. Die Überflüssige
Der Einkaufswagenhersteller Wanzl hat Tap&Shop erfunden, einen digitalen Einkaufswagenchip:
„Du bezahlst bargeldlos und hast keine Münzen mehr eingesteckt? Mit TAP&SHOP entnimmst Du auch Einkaufswagen ab sofort bargeldlos und digital aus der Parkbox.“
Bargeldlos und digital? was die bei Wanzl alles können! Damit das funktioniert, wird außer der App ein NFC-fähiges Smartphone benötigt, das man an den (vom Händler entsprechend nachgerüsteten) Einkaufswagengriff hält und dann: Sesam öffne dich! Andreas Starzmann, Wanz-Digitalisierungs-Chef mit Einstein-Zitat im LinkedIn-Profil, scheint mächtig stolz drauf zu sein, und ich will ihm die Innovation ja nicht kaputt machen, aber: Wozu haben Händler ihre Einkaufswagen ursprünglich nochmal an die Kette gelegt? Damit die geschätzten Kund:innen die Wagen nach ihrem Einkauf wieder dorthin zurückbringen, wo sie hinsollen, um ihre Pfandmünze zurück zu kriegen, oder?
Wenn der Wagen vorher per App von der Kette gelassen wurde, entfällt diese Pflicht natürlich. Und es mag ja sein, dass immer noch die Mehrheit der wohlerzogenen Kundschaft den Wagen dahin zurück schuckelt, wo sie ihn hergeholt hat – aber dann kann man sich als Händler doch auch die Kosten für die Nachrüstung der Griffe sparen, oder?
(Im Zweifel stehen die gemopsten Einkaufswagen in der Stadt wenigstens nicht noch zusätzlich mit nachgerüsteter NFC-Technologie rum.)
Deshalb: Glückwunsch an Wanzl für die überflüssigste App des Jahres! Naja, für ein bisschen positive Berichterstattung in der Fachpresse hat’s ja allemal gereicht.
3. Die Krücke
„Die Resonanz der Nutzer übertrifft unsere Erwartungen“, meldete Rewe gerade in Bezug auf seine im Sommer auf 50 Märkte ausgedehnten Scan-&-Go-Service. Bei dem nutzen Kund:innen ihr Smartphone (oder einen im Markt bereit gestellten Handscanner), um Produkte während des Einkaufs direkt zu scannen und nachher – vielleicht – schneller bezahlen zu können. Vor allem Stammkund:innen machen laut Rewe davon Gebrauch. Deshalb solle das Angebot zügig auf insgesamt 100 Rewe-Märkte (von über 3.000 in Deutschland) ausgedehnt werden.
„Damit untermauern wir auch unsere Innovationsführerschaft im deutschen Lebensmitteleinzelhandel“,
lässt sich Rewe-Bereichsvorstand Peter Maly zitieren.
Kleines Problemchen: Rewe nutzt die Scan-&-Go-App bislang lediglich als Krücke. Wie im Blog bereits beschrieben, muss der virtuelle Warenkorb am Ende nämlich an eine stationäre SB-Kasse übertragen werden, um bezahlt zu werden. Und die Self-Checkout-Geräte stehen bislang ebenfalls nur in einer überschaubaren Zahl von Rewe-Märkten.
Damit beschränkt sich der „Innovationsführer“ nicht nur massiv bei der Ausdehnung des (offensichtlich erfolgreichen) Konzepts. Er macht die SB-Kassenzone mit zunehmender Beliebtheit der Technologie auch zum Nadelöhr für Selbstscanner:innen, die zu Stoßzeiten künftig halt an anderer Stelle im Markt anstehen dürfen.
Vorausgesetzt, der Markt hat überhaupt Bock auf den ganzen neumodischen Kram. Das ist, wie Supermarktblog-Leser Aufrechtgehn in Frankfurt am Main am eigenen Leib erscannen musste, nämlich keineswegs selbstverständlich.
4. Die Pragmatischen
Alles blöd, alle doof? Nee, natürlich nicht. Manche Apps können tatsächlich dabei helfen, den Einkauf bequemer zu gestalten. Zum Beispiel bei Teguts neuem Mini-Supermarktkonzept Teo, das ohne Personal auskommt, weil Kund:innen ihre Ware dort ausschließlich selbst scannen und bezahlen. Damit das klappt, ist die vorherige Registrierung und die Installation einer App notwendig, die mittels QR-Code auch gleich als Türöffner funktioniert. (Alternativ kann der Einlass per Kreditkarten-Scan am Eingang erfolgen.)
Der amerikanische Lebensmitteleinzelhandel ist u.a. mit Amazon Go bereits einen Schritt weiter. Dort funktioniert die App ebenfalls als Eintrittskarte, gescannt werden muss drinnen dank der installierten Sensoren und Kameras bekanntlich nicht mehr (siehe Supermarktblog).
In den ersten Läden der neuen Supermarktkette Amazon Fresh, die in dieser Woche nach Chicago expandiert, scannen Kund:innen derweil den QR-Code auf ihrem Einkaufswagen und werden innerhalb der Amazon-App zur „Order ahead“-Auswahl der ladeneigenen Bedientheke weitergeleitet. Darüber lassen sich beim Betreten des Ladens fertig zubereitetete Gerichte, Fleisch, Meeresfrüchte und Pizza vorbestellen. Das Personal packt die gewünschten Produkte ein und stellt sie zur Abholung am Ende des Einkaufs bereit.
Das ist ein kleines bisschen eleganter, als an der Bedientheke Nummern zu ziehen und sich in die Schlange zu stellen, bis man aufgerufen wird.
Und dann wird’s natürlich interessant zu beobachten sein, in welchem Maße sich Apps als Ersatz für die Bargeld- bzw. Girokartenzahlung an der Kasse im Super- bzw. Drogeriemarkt durchsetzen – nicht nur externe Lösungen wie Google Pay und Apple Pay, sondern auch App-integrierte Varianten wie Payback Pay, das über einen QR-Code nicht nur das Einlösen aktivierter Coupons ermöglicht, sondern auch die Abbuchung des Einkaufsbetrags von einem zuvor hinterlegten Konto anstößt.
Von der Drogeriemarktkette dm heißt es, Payback Pay sei im stationären Betrieb die schnellste aller Zahlarten – weil die Kundin bzw. der Kunde in der Regel den QR-Code schon scannt, während die Mitarbeiterin bzw. der Mitarbeiter die Waren noch über die Kasse zieht.
Das könnte auch ein wesentliches Argument für Lidl sein, seine (ähnlich funktionierende und außerhalb Deutschlands bereits erprobte) Option Lidl Pay mittelfristig überall in die Lidl-Plus-App einzubinden. Auf diesem Weg könnte eine digitale Applikation tatsächlich dazu beitragen, sehr analoge Warteschlangen im Laden zu verkürzen.
Das wachsende Angebot an digitalen Begleitern für den stationären Lebensmitteleinkauf werden wir so schnell also wahrscheinlich nicht mehr los.
Aber fein wär’s schon, wenn Händler den digitalen Wildwuchs begrenzen und wirklich nützliche Funktionen so bündeln könnten, dass auf unseren Telefonen künftig auch noch ein bisschen Platz für andere Wichtigkeiten wie die Wetter-App, die Taxi-App und den Homescreen-Link zum Supermarktblog bleibt.
Titelfoto: Tegut, Fotos: Supermarktblog
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Der Beitrag Alles per App? Der Lebensmittelhandel drängelt auf die Smartphones seiner Kund:innen erschien zuerst auf Supermarktblog.