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Channel: Peer Schader, Autor bei Supermarktblog
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Die Fresh-Falle: Amazons unterlegenes Modell zur Lieferung frischer Lebensmittel

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Partner und Sponsoren:
Partner und Sponsoren:

Es hagelt Entlassungen, Übernahmen und Expansionsstops: Während bei den zügig gewachsenen Quick-Commerce-Anbietern angesichts der sich verschärfenden wirtschaftlichen Lage gerade die Hütte brennt (mehr dazu überall im Internet, und demnächst hier im Blog), hat der eher träge Herausforderer Amazon Fresh Anfang Mai erstmal in aller Seelenruhe seinen fünften Geburtstag gefeiert.

Screenshot: amazon.de

Und die zuständige Presseagentur ausrechnen lassen, wieviele Bäder Kleopatra in der seit dem Start an die Kundschaft gelieferte Milch hätte nehmen können (fast 10.000), wie lange man an allen bis dahin erworbenen Kaffeepackungen entlanglaufen müsste (21 Kilometer) und wieviel Vanilleeis im Sommer 2021 bestellt wurde (umgerechnet 50.000 Kugeln).

Bloß eine lustige Statistik hat gefehlt, und zwar: wieviele Chefs der Lieferdienst seit seiner Gründung bereits verschlissen hat (im Schnitt fast 1 pro Jahr).


Mehr neue Chefs als Liefergebiete

Ex-Fresh-Frontmann Florian Baumgartner hielt bis Februar 2018 durch, inzwischen ist er President International beim Online-Drucker Vistaprint. Wolfgang Eckert übernahm für fast ein Jahr (bis März 2019), bevor er intern auf eine andere Position wechselte. Gerade hat sich Mark Hübner als Country Manager Amazon Fresh & Groceries Marketplace Germany, wie das Monster inzwischen umständlich heißt, verabschiedet – ausgerechnet zur sehr viel stärker aufs Tempo drückenden Konkurrenz von Rohlik, wo er als Group Chief Commercial Officer tätig sein wird.

Seine Position bei Fresh hat Sumit Goyal übernommen, der vorher in Sachen „Furniture & Major Home Appliances“ Erfahrungen sammelte und jetzt darauf achten darf, dass der einst mit großen Ambitionen gestartete Lieferdienst weiter im Leerlauf geparkt bleibt.

Amazon Fresh startete 2017 in Berlin und Potsdam; Foto: Smb

Das ist vor allem: kurios – weil Amazon die Eroberung des Lebensmitteleinzelhandels ja weiterhin ganz oben auf seiner To-Do-Liste stehen hat und dafür massiv Geld in die Hand nimmt. Jedenfalls in den USA und in Großbritannien, wo derzeit die stationäre Expansion als Teil der „Fresh Food Fast“-Strategie absolute Priorität hat und eine kassenlose Fresh-Filiale nach der nächsten eröffnet. Das ist eine ganze Menge Arbeit, zumal der Konzern parallel dazu einen kleinen Berg an Lebensmittel-Eigenmarken entwickelt (u.a. „Fresh“ und „by Amazon“), um den Vorsprung aufzuholen, den klassische Handelsketten in dieser Hinsicht bislang haben.

Und die Wirkung entfaltet sich trotz hoher Investitionen erst langsam: Medienberichten zufolge kam Amazon zuletzt auf 2 Prozent Marktanteil im US-Lebensmitteleinzelhandel, weniger als viele regionale Supermarktketten. (Schwergewicht Walmart hat 25 Prozent.)

Partner suchen neue Allianzen

Nebenbei wurde die mühevolle Zusammenlegung von Fresh mit dem sehr ähnlichen Prime Now beschlossen und gewuppt (siehe Supermarktblog). Seitdem ist hierzulande nicht mehr viel passiert. Fresh ist in seiner Entwicklung wie schockgefrostet stehengeblieben – während sich der Markt weiter entwickelt.

Zugegeben: Grundlegende Abläufe wurden professionalisiert. Fresh liefert Bestellungen heute sehr viel zeitnaher als zum Start, und oftmals genau wie bestellt – ohne lästige Ersatzartikel.

Aber auch diese Professionalisierung hat nicht dazu geführt, Amazon den Service in weiteren deutschen Städte ausprobieren zu lassen oder neue Partner wie die Handelskette Tegut zu finden, die Amazons Plattform nutzen, um sich den kostspieligen Aufbau eines eigenen Lieferservices zu sparen. Dabei spielt der Marktplatz-Gedanke längst eine zentrale Rolle in Amazons Plan, eine große Nummer im Lebensmitteleinzelhandel zu werden: „The Information“ aus den USA berichtete vor einigen Monaten, der Konzern wolle verstärkt zum Logistiker für stationäre Händler werden (Zusammenfassung bei Retail Detail) – obwohl er das zum damaligen Zeitpunkt in Europa (wie hier im Blog des öfteren berichtet) ja längst war: mit Supermarkt-Allianzen in Großbritannien, Italien, Spanien, Frankreich usw.

Partner wie Tegut verfügen über eigene „Storefronts“ im Amazon-Marketplace für Lebensmittel; Foto: Smb

Fakt ist aber auch, dass Amazon sich mit seinen Ambitionen viel zu lange Zeit gelassen hat – womöglich im Glauben, dass sonst kaum ein Unternehmen Investitionen in ähnlichem Umfang tätigen würde. Das war ein Irrtum. Und hat dazu geführt, dass sich viele bisherige Partner aus dem Lebensmitteleinzelhandel längst nicht mehr nur auf die Typen aus Seattle verlassen wollen, um im Online-Handel mit frischen Lebensmitteln voran zu kommen.

Nur noch eine Alternative von vielen

Stattdessen streben Supermarktketten zunehmend vielfältige Allianzen an:

  • Morrisons, Prime-Now-Kooperationspartner der ersten Stunde, stellt Lebensmittel inzwischen auch über den Blitzlieferdienst Deliveroo Hop zu und hat gerade einen mehrjährigen Pakt mit dem US-Quick-Commerce-Pionier goPuff für dessen UK-Expansion geschlossen.
  • Die zur Casino Group gehörende Kette Monoprix, über viele Jahre mit Prime Now im Boot, testet in Frankreich ihren eigenen Sofortlieferdienst und kombiniert dafür die Logistik von Gorillas und Deliveroo mit der Kommissionierung aus eigenen Stadtfilialen (siehe Supermarktblog).
  • In Deutschland hat sich Tegut an ersten Standorten mit Wolt zusammengetan und prüft laut „Lebensmittel Zeitung“ (Abo-Text) weitere Kooperationen mit Knuspr und Bringoo, während Bünting außer Amazon zahlreiche weitere Partner beliefert und bald, wie gerade angekündigt, auch beim Start des Lieferneulings Oda aus Norwegen an Bord ist.
Screenshot: wolt.com

Anders formuliert: Amazon ist für zahlreiche Handelsketten nur noch eine von vielen Alternativen, im Lebensmittel-Onlinehandel Fuß zu fassen – und im Zweifel nicht mal die beste, schnellste oder unkomplizierteste.

Das ist aus Sicht der Partner bloß konsequent, weil Amazon mittel- und langfristig vom Einblick in deren Sortimente und das Kaufverhalten der Kundschaft profitiert und diese Erkenntnisse nutzen wird, um eigene Marken und Sortimente aufzubauen, die dann in unmittelbarer Konkurrenz zu den bisher vertriebenen stehen. Vor allem aber ist es klug, sich im Onlinehandel mit Lebensmitteln breiter zu positionieren, weil Amazon mit einem Modell im Markt unterwegs ist, das vielen anderen schon jetzt haushoch unterlegen ist.

Das hat vor allem zwei Gründe:

1. Der Prime-Zwang

Wer über Amazon Fresh, Whole Foods Market in den USA oder einen der europäischen Supermarkt-Partner frische Lebensmittel bestellen will, wird nach wie vor dazu gezwungen, vorher eine Prime-Mitgliedschaft abzuschließen. Kund:innen sollen also dafür, dass sie Produkte des täglichen Bedarfs über Amazon kaufen, zusätzlich bezahlen – während diese Bestellhürde bei den allermeisten anderen Lebensmittel-Lieferdiensten nicht existiert.

Dazu kommt, dass Amazon die Kosten für eine Prime-Mitgliedschaft in den USA zuletzt deutlich angehoben hat – von 119 auf 139 US-Dollar im Jahr. (Also ungefähr der Gegenwert eines ordentlichen Wocheneinkaufs, den man als Kund:in investieren soll.)

In Deutschland sind es weiterhin 69 Euro, mit einer Anhebung ist aber ebenfalls zu rechnen. Wer sowieso Prime-Kund:in ist und zahlreiche Amazon-Dienste nutzt, der bzw. dem mag das egal sein. Aber alle anderen dürften deutlich besser dran sein, wenn sie einfach bei einem Wettbewerber bestellen, der ihnen dafür kein Abo aufdrücken will. (Zumal die Fresh-Lieferung ja auch als Prime-Mitglied erst ab 80 Euro kostenfrei ist – genau wie bei Knuspr übrigens, nur halt ohne Zwangsabo.)

2. Die schwache Logistik

Noch kurioser ist, dass Amazon die Lieferung der Fresh-Bestellungen zwischenzeitlich an Laien outgesourcet hat: an die Fahrer:innen seines Flex-Programms, die mit ihrem privaten PKW unterwegs sind und pro Auslieferung bezahlt werden, deren Zustellqualität aber sehr, sehr unterschiedlich ausfällt.

In Berlin hab ich meine Fresh-Einkäufe zuletzt u.a. von zwei freundlichen südasiatischen Herren gebracht bekommen, einem sehr gut organisierten Pärchen mit randvollem Kleinwagen, einem Bodybuilder-Typen, der den kompletten Einkauf auf einmal die Treppe hochgewuchtet bekam, und einem völlig überforderten schlecht gelaunten Fahrer, dem erst beim Schleppen aufgefallen sein muss, worauf er sich da eingelassen hat.

Die Qualität des Einkaufs richtet sich zu einem nicht unerheblichen Teil nach dem Organisationsgrad der individuellen Flex-Auftragnehmer:innen: von hervorragend sortiert bis halb zerquetscht.

Fish-Einkäufe in Prime-Tüten, in wechselnder Zustellqualität; Foto: Smb

Aber das kann unmöglich der Standard sein, mit dem Amazon mit Fresh nach der gescheiterten Kooperation mit DHL langfristig im Markt gegen eine größer werdende Konkurrenz bestehen will. Zumal die sich zunehmend dadurch auszeichnet, dass sie über eine eigene Logistik verfügt, um die zuvor gegebenen Zustellversprechen peinlich genau zu erfüllen: mit umweltschonenden E-Transportern, geschulten Lieferfahrer:innen, die als Gesichter des Unternehmens gegenüber den Kund:innen auftreten, und die bestenfalls mit ein paar freundlichen Worten dazu beitragen, dass man dort gerne wiederbestellt.

Kein professioneller Kund:innenkontakt

Picnic macht’s so, Rewe macht’s (überwiegend) so, Knuspr legt (nach bisherigen Erfahrungen) allergrößten Wert auf freundlichen Kund:innenkontakt an der Haustür – und die Sofortlieferdienste von Gorillas über Flink bis Wolt hinterlassen mit ihren vom eigenen Logo geschmückten Uniformen immerhin einen professionellen Einruck.

Währenddessen schickt Amazon jeden Typen, der ein Smartphone und seinen Privat-PKW bedienen kann, an die Haustür, ausgerechnet um dort die allersensibelsten Waren abzuwerfen, die man im Internet bestellen kann: frische Lebensmittel? Was für ein Armutszeugnis.

Dass in vielen Städten längst graue Amazon-Transporter mit hellblau-weißem Prime-Logo unterwegs sind, die alles ausliefern außer frischen Lebensmitteln (und für den Dienst so auch keine Werbung machen können), lässt die Strategie noch absurder wirken. Zumal es Amazon bislang nicht mal hinbekommt, regulär aufgegebene Bestellungen mit Fresh-Einkäufen zu koppeln, selbst wenn beide am selben Tag und laut App-Prognose noch dazu fast zur selben Stunde ankommen sollen. Was (wie bei mir gerade) dazu führt, dass erst der Fahrer mit dem Fresh-Einkauf an der Tür klingelt, und eine halbe Stunde später nochmal der Prime-Kurier mit dem Amazon-Paket.

Vielleicht ist das aber auch eine kreative Taktik, um das zu groß gewordene Logistiknetzwerk mit seinen überschüssigen Kapazitäten ausgelastet zu kriegen.

Alles außer frische Lebensmittel: Amazon-Prime-Zustelltransporter in Berlin; Foto: Smb

Amazon sei mit Fresh in Deutschland „kaum weiter als am ersten Tag“, lästerte Exciting Commerce zum fünften Geburtstag des Diensts Anfang des vergangenen Monat. Aber eigentlich ist es sogar noch ein bisschen schlimmer: Fresh hat seit dem Start in Deutschland unterm Strich eher Rückschritte gemacht hat.

Das wird sich für ein Unternehmen, das bislang gewohnt ist, in vielen Branchen selbst die neuen Standards zu setzen, schon sehr bald problematisch werden.

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Der Beitrag Die Fresh-Falle: Amazons unterlegenes Modell zur Lieferung frischer Lebensmittel erschien zuerst auf Supermarktblog.


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