Achtung, Achtung, hier kommt eine wichtige Durchsage: Vor vier Wochen hat Amazon seinen Online-Supermarkt Fresh in Berlin gestartet – und der klassische Lebensmitteleinzelhandel ist trotz apokalyptischer Medienprognosen noch nicht vollständig zusammengebrochen. Das sind gute Nachrichten für die etablierten Handelsketten. Die allerdings abzusehen waren (siehe Supermarktblog). Weniger absehbar war, mit welchem Tempo Amazon den frisch geschlüpften Dienst hochpäppelt.
Aus den anfänglich 108 Postleitzahlengebieten, die in Berlin und Potsdam beliefert wurden, sind nach nur einem Monat bereits 169 geworden (156 Berliner, 6 Potsdamer, weitere knapp über der Landesgrenze). Wenn’s in diesem Tempo weitergeht, versorgt Fresh bis Mitte Juni beide Städte komplett – und Edeka kann seine Bringmeister-Werbung, die auf den anfänglichen Lieferkäse anspielt, gleich wieder abhängen.
Auch bei der Verknüpfung von Fresh mit seinem übrigen Warensortiment verliert der Amazon keine Zeit. Der Einstieg in den umkämpften Lebensmittel-Liefermarkt ist für den Konzern bekanntlich kein Selbstzweck: Amazon will dafür sorgen, dass Kunden noch öfter auf der Seite vorbeischauen. Das geht am besten, indem man sie daran gewöhnt, dort regelmäßig Produkte des täglichen Bedarfs einzukaufen.
(Deshalb ist Fresh auch nicht in eine eigene App ausgelagert, sondern Bestandteil der klassischen Amazon-Plattform.)
Mit zunehmender Frequenz steigt auch die Chance, zusätzliche Artikel verkaufen zu können – erst recht, wenn man die dem Kunden im für den nächsten Tag vereinbarten Zeitfenster mitliefert. Das klappt schon jetzt mit vielen Artikeln, zum Beispiel der Eigenmarke Amazon Basics: Wie wär’s mit einem günstigen Mixer zu den frischen Erdbeeren und den Bananen? Einem neuen Toaster fürs bestellte Brot? Einer Küchenwaage, einem Waffeleisen?
Geschirrabtropfer gefällig?
Eine eigene Unterkategorie im Fresh-Menü gibt es dafür bislang nicht. Artikel, die über Fresh mitlieferbar sind, kennzeichnet Amazon jedoch auf ihrer Produktseite mit dem Hinweis:
„Lieferung verfügbar über Fresh. Dieser Artikel und andere Lebensmittel sind für die Lieferung an Ihre Haustür verfügbar.“
In der Artikel-Übersicht hat das Fresh-Logo sogar Vorrang vor dem des Schnelllieferdiensts Prime:
Screenshot: Amazon.de/Smb
Bislang scheint sich die Auswahl eher auf haushaltsnahe Sortimente zu beschränken, also z.B. Küchenutensilien – vom Messer über Zitronenpresse, Backform und Bräter bis zur Kaffeepad-Maschine. Und Mikrowellenreiskocher, Geschirrabtropfer, Salatzangen. Lieferbar sind aber auch küchenferne Artikel: Duschvorleger, Handtuchsets, Wäscheständer, Duschvorhanghaken, Fusselrasierer, Bügeleisen. Oder ein Set Craft-Beer-Gläser, falls spontan zur Hopfenverkostung geladen werden soll. Dafür fehlt ein simples Produkt wie Amazon-Basics-Batterien, das bislang nicht in die Tüte kommt.
Screenshot: Amazon.de/Smb
Produkte sind in der Regel schon für Fresh-Lieferungen am nächsten Tag verfügbar, wenn ein Zeitfenster ab 16 Uhr gewählt wird. Amazon holt die Artikel also vermutlich über Nacht aus seinen Lagern (oder dem Prime-Now-Zwischenlager) und führt sie im Verteilzentrum mit den Lebensmitteln zusammen – ähnlich wie die Produkte aus den „Lieblingsläden“.
Das klingt nach einer hochkomplexen Logistik, die Amazon aber schon jetzt mühelos zu bewältigen scheint. (Ich bin über Nacht stolzer Besitzer eines fantastischen Messerschärfers geworden und musste für das Kontaktlinsen-Reinigungsmittel nicht extra nochmal zum Amazon Locker laufen.)
DHL erobert Zustellungen zurück
Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis mit Fresh auch Produkte aus anderen Sortimenten ins Haus kommen: der Roman von der Beststeller-Liste zum Beispiel, oder ein neues Smartphone-Modell. All das also, was Amazon seit einiger Zeit (u.a. in Berlin, München, dem Ruhrgebiet) über seinen eigenen Kurierdienst Logistics ausliefert – und das jetzt ironischerweise doch wieder von DHL zugestellt wird, das für Amazon die Fresh-Heimlieferung abwickelt.
Das lässt zumindest ahnen, warum es dem DHL-Paket-CEO Achim Dünnwald so wichtig war, Amazon ein Kooperationsangebot für Fresh zu machen, das der Konzern unmöglich ablehnen kann (siehe Supermarktblog): Weil DHL damit zumindest einen Teil der Zustellungen zurückerobert, die das Unternehmen an Amazon Logistics hat abgeben müssen.
Wie lange DHL das durchhält, ist freilich eine andere Frage – die Rentabilität der Kooperation scheint zumindest nicht im Vordergrund zu stehen. Zur Auslieferung meiner gestrigen Fresh-Bestellung im Wert von gerade mal 50 Euro standen gleich zwei DHL-Mitarbeiter vor der Tür. (Für 22 Artikel, übrflüssigerweise verteilt über fünf Tüten – da hakt’s in der Kommissionierung also noch gewaltig.)
In jedem Fall müssen sich wohl nicht nur Lebensmittelketten sorgen, Kunden an Amazon zu verlieren – sondern im Zweifel auch alle anderen Händler: Weil Fresh der ideale Köder für Kunden ist, ihre kompletten Einkäufe über ein und denselben Anbieter zu erledigen.
Perfektioniert hat Amazon dieses System noch lange nicht. Aber was der Konzern mit seinem Online-Supermarkt bezweckt, geht weit über die klassische Lebensmittellieferung hinaus.
Fotos: Supermarktblog, Screenshots: Amazon.de/Smb
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