Lebensmittel im Internet zu verkaufen, den Kunden nachhause zu liefern und damit Geld zu verdienen, trauen sich die Discount-Schwestern Lidl und Kaufland seit neustem bekanntlich nicht mehr selbst zu (siehe Supermarktblog).
Die Frage ist: Trauen sie stattdessen jemand anderem?
Um sich im Wesentlichen auf das stationäre Geschäft konzentrieren zu können, mit dem die beiden Handelsketten vertraut sind, und in Zukunft dennoch Kundengruppen zu erreichen, die sich nicht mehr im Laden an der Kasse anstellen wollen, bräuchten die Unternehmen einen Partner.
Einen, der sich mit dem Transport aller möglichen Güter zu seinen Kunden schon gut auskennt, den Lieferprozess als wesentlichen Teil seines Geschäftsmodells immer weiter zu optimieren versucht, und der zugleich die Kompetenzen eines klassischen Lebensmittelhändlers gut gebrauchen kann.
Ein Partner wie: Amazon.
Bislang standen die großen deutschen Handelsketten dem amerikanischen Wettbewerber eher kritisch gegenüber. Gerade erst erklärte der Rewe-Vorstandsvorsitzende Lionel Souque im Interview mit der „Wirtschaftswoche“, warum er das Angebot ausgeschlagen habe, seine Eigenmarken auch über Amazons Plattformen zu verkaufen:
„Ich habe mir die Ideen des Amazon-Managements angehört. Aber eine Kooperation hätte sich für uns nicht gelohnt. Warum sollten wir Kompetenzen an einen Wettbewerber abtreten? Auch wenn das unseren Großhandelsumsatz etwas gesteigert hätte, wäre es am Ende ein schlechtes Geschäft gewesen. Wir bauen lieber unseren eigenen Onlinelieferdienst aus.“
Rewe sieht nicht ein, Amazon mit einer Kooperation den Markteinstieg zu erleichtern – in der Annahme, damit sonst einen Teil der eigenen Zukunftsfähigkeit aufs Spiel zu setzen.
Kleinere Händler bewerten die Situation aus nachvollziehbaren Gründen anders (siehe Supermarktblog).
Nicht auf eigene Kosten ins Netz
Womöglich sind sie damit nicht (mehr) alleine. Spätestens seit der Online-Vollbremsung, die Lidl zu Beginn des Jahres mit seinem Click-&-Collect-Projekt hingelegt hat, zeichnete sich am Unternehmenssitz in Neckarsulm ein deutliches Unwohlsein mit dem Engagement im Netz ab – einem ungewohnten und vor allem kostspieligen neuen Geschäftsfeld, für das man offensichtlich nicht bereit war, auf Dauer die notwendigen Investitionen aufzubringen, insbesondere nicht zu Lasten des Hauptgeschäfts.
(Und nicht einmal, obwohl Kauflands Lieferservice nach allem, was bisher bekannt ist, in Berlin durchaus gut angenommen wurde.)
Wenn nun in der Schwarz-Gruppe aber der grundsätzliche Entschluss getroffen worden ist, sich das Online-Geschäft mit Lebensmitteln nicht auf eigene Faust erschließen zu wollen, spricht nicht mehr viel dagegen, diese Arbeit von einem Partner erledigen zu lassen, dem man zutraut, damit Erfolg zu haben. Und ihm dafür zum Beispiel den Zugriff auf sein Eigenmarken-Portfolio zu erlauben.
Anders formuliert: Was wäre, wenn (u.a.) die angekündigte Einstellung von Kauflands Lieferservice in Berlin keine Kapitulation vor, sondern für Amazon Fresh ist?
Umsatz ohne finanzielles Risiko?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist das nur ein Gedankenspiel – gegen das es viele gute Einwände gibt. Immerhin hatte Lidl kurz nach dem Deutschland-Start von Amazon Fresh im Frühjahr Lieferanten mit Sanktionen (bis hin zur Auslistung ihrer Artikel) gedroht, falls die mit dem neuen Wettbewerber kooperieren würden.
Das Kuriose ist: Inzwischen würde eine solche Allianz durchaus zur in diesem Jahr neu ausgegebenen Strategie der Schwarz-Gruppe passen. Dadurch hätten Lidl und Kaufland die Chance, sich zusätzliche Umsätze in einem wachsenden Markt zu sichern und notfalls Verluste abwandernder Stammkunden im stationären Geschäft auszugleichen. Und zwar ohne sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie sich die Logistik für das Online-Hexenwerk finanzieren ließe.
Amazon wiederum hätte durch den Zugriff auf ein bundesweit bekanntes Markenportfolio ganz neue Mittel, den preisempfindlichen deutschen Markt zu knacken, und könnte im Zweifel einen Teil der mühsam aufzubauenden Warenbeschaffung auslagern.
So ähnlich funktioniert es schon in Großbritannien, wo Amazon mit dem SB-Warenhausbetreiber Morrisons kooperiert und dessen Eigenmarken über seine Lieferdienste Prime Now und Fresh anbietet.
Konkurrenz statt Kooperation in den USA
In jedem Fall dürfte es sich für Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber rentieren, nach den Bekanntgaben der vergangenen Wochen noch einmal zum Telefonhörer zu greifen und in Neckarsulm nachzufragen, ob die bisherige Abwehrhaltung gegen eine Kooperation noch immer gilt. Falls das nicht schon längst geschehen ist.
Bloß mal angenommen, es habe eine Annäherung schon gegeben – und man wäre sich sogar einig geworden: Damit ließe sich zumindest halbwegs plausibel erklären, warum Lidl und Kaufland in den vergangenen Wochen geradezu fluchtartig sämtliche Online-Ambitionen im Lebensmittelsegment beendeten. Auch der eigentlich für Sommer geplante, dann aber auf unbestimmte Zeit verschobene Start des Kaufland-Lieferservices in Hamburg würde dazu passen.
Und wer weiß, vielleicht hätte Amazon ja sogar Interesse am Erwerb einer Flotte neuwertiger Kühlfahrzeuge zum Transport frischer Lebensmittel, die vom bisherigen Eigentümer bald nicht mehr gebraucht werden?
Wie gesagt: Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es dafür keine konkreten Belege. Genauso gut ist möglich, dass man in der Schwarz-Gruppe tatsächlich zur Überzeugung gelangt ist, auf das sich neu entwickelnde Geschäftsfeld in Zukunft nicht angewiesen zu sein.
Selbermachen oder Partner suchen
Zumal auch seitens Amazon Argumente gegen einen solchen Schulterschluss existieren: In den USA hat der Konzern im Sommer die Biomarktkette Whole Foods übernommen und ist dadurch selbst zum Lebensmittelhändler geworden (siehe Supermarktblog); nicht zuletzt dadurch sind Amazons Ambitionen auch im stationären Handel gewachsen. Die Strategie ist bislang: Konkurrenz statt Kooperation.
Inwiefern das auf den europäischen Markt übertragbar ist, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt freilich nicht sagen. „Le Monde“ hatte vor einigen Wochen gemeldet, Amazon habe Kontakt zu mehreren französischen Handelsketten aufgenommen, um sowohl Kooperationen als auch Übernahmen zu prüfen (siehe Supermarktblog).
In Deutschland arbeitet Amazon bislang u.a. mit der zu Migros gehörenden Supermarktkette Tegut zusammen. Deren Geschäftsführer Thomas Gutberlet erklärte im Interview mit der „Lebensmittel Praxis“ im Frühjahr, warum sich sein Unternehmen für die Allianz entschieden habe:
„Es gibt immer zwei Möglichkeiten im Leben: Entweder man macht etwas selber, dann muss man es wirklich gut machen, oder man sucht sich jemanden, der das Geschäft noch viel besser beherrscht.“
Womöglich ist das auch in Neckarsulm aufmerksam gelesen worden.
Titelfoto [M]: Amazon Deutschland/Supermarktblog