Die Schwarz-Gruppe – größter Lebensmittelhändler Europas und viertgrößter der Welt – ist der festen Überzeugung, dass das Internet für ihr zukünftiges Geschäft keine wesentliche Rolle spielen wird.
Mit diesem Satz lässt sich die unternehmerische Strategie des Neckarsulmer Unternehmens im zu Ende gehenden Jahr 2017 zusammenfassen. Wobei „Strategie“ ein unverhältnismäßiger Euphemismus für das ist, was sich der Konzern in diesem Jahr geleistet hat. Zur Erinnerung:
- Anfang des Jahres hat Lidl seine Pläne für einen Click-&-Collect-Test in Berlin sprichwörtlich kurz vor der Eröffnung abgesagt und die Einrichtung aus den dafür bereits fertig umgebauten Läden wieder rausgerissen (siehe Supermarktblog).
- Kurz darauf hat sich Lidl von seinem Geschäftsführer Sven Seidel getrennt, der das in die Jahre gekommene Discount-Konzept weiterentwickeln wollte (siehe Supermarktblog-Stellenanzeige).
- Zusätzlich erklärte der maßgeblich für den Kurswechsel verantwortliche Lidl-Vorstand Klaus Gehrig, auch von den umfassenden Marktmodernisierungen wieder Abstand nehmen zu wollen, mit denen sich der Discounter ein zeitgemäßes Erscheinungsbild verpassen wollte (siehe Supermarktblog).
- Vor wenigen Wochen kappte Lidl zudem die Möglichkeit, (haltbare) Lebensmittel in seinem Online-Shop zu bestellen (siehe Supermarktblog).
- Und nun macht die Schwester Kaufland vor Weihnachten ihren Berliner Lieferservice für online bestellte Lebensmittel, der kurz vor der Expansion nach Hamburg stand, wieder dicht (siehe Supermarktblog).
Anders formuliert: Bei voller Fahrt in Richtung Zukunft haben erst Lild und nun Kaufland die Handbremse angezogen, um sich mehrere Male um sich selbst zu drehen und künftig in die entgegengesetzte weiter zu steuern.
Die dafür genannten Gründe sind in beiden Fällen dieselben: Für Lidl stehe „im Vordergrund, dass entsprechende Projekte von den Kunden angenommen und profitabel betrieben werden können“; Kaufland erklärt, „dass sich ein Lieferservice im Lebensmittelbereich auf Sicht nicht kostendeckend betreiben lässt“.
Das klingt plausibel – und ist dennoch erstaunlich.
Vor allem, wenn dieses Argument von einem Unternehmen angeführt wird, das offensichtlich einen Weg gefunden hat, halb Europa mit stationären Filialen zuzupflastern, in denen man viele Stunden am Tag eigentlich die Lichter ausmachen und die Türen zusperren müsste, weil sich zu diesen Zeiten nämlich oft mehr Mitarbeiter im Laden aufhalten als Kunden – und das es trotzdem zu schaffen scheint, diese Märkte wirtschaftlich zu betreiben.
Mischkalkulation fürs Aufbacktheater
Kein Zweifel: Für sich gesehen mögen Experimente wie der Lieferservice oder ein Click-&-Collect-Angebot kostspielig sein. (Deren Abwicklung ist es freilich auch.) Doch Handel funktioniert seit jeher als Mischkalkulation. Und selbst im Discount sind die Zeiten, in denen sich Handelsmanager neben jede Palette im Laden stellen konnten, um auszurechnen, ob die sich rentiert, lange vorbei.
Die Schwarz-Gruppe müsste das eigentlich am besten wissen. Weil sie diese Veränderung in den eigenen Unternehmen frühzeitig erkannt und selbst mit eingeleitet hat.
Zu gerne würde man die Lidl-Manager ein für allemal erklären lassen, wie sie das Kunststück anstellen, die riesigen Brötchenknasts in ihren Filialen wirtschaftlich zu betreiben; die Chance, dass se das nicht können, ist groß. Kein Wunder: Aller Voraussicht nach wäre es sehr viel rentabler, die für Aufbackware ver(sch)wendete Fläche zu nutzen, um dort sehr viel margenträchtigere Produkte aus dem Standardsortiment zu verkaufen, zumal die längst nicht so viel Arbeit machen, nicht tagsüber mehrfach nachgefüllt und aufwändig in Stand gehalten werden müssten.
Dennoch hat Lidl in den vergangenen Jahren fast alle seine Filialen mit dem Aufbacktheater ausgerüstet – weil frische Brötchen, Brote und warme Snacks für viele Kunden zu einem essentiellen Bestandteil ihres Einkaufs geworden sind – und im Zweifel darüber mitentscheiden, wo dieser Einkauf getätigt wird: im Discounter, oder nicht doch lieber im klassischen Supermarkt.
Natürlich kann man, um Kosten zu sparen, die Stationen aus den Läden wieder herausreißen und darauf hoffen, dass die Kunden einem das nicht übel nehmen und trotzdem wiederkommen.
Vielleicht geht man vorher aber erstmal zum Arzt und lässt sich mit Verdacht auf Gehirnerschütterung untersuchen.
Die Kunden wissen: es funktioniert
In den vergangenen vierzehn Monaten hat Kaufland in Berlin eindrucksvoll bewiesen, dass ein bis dahin eher traditionell agierendes Handelsunternehmen in der Lage ist, sein Geschäftsmodell um einen neuen Service zu erweitern, der von den Kunden höchst erfolgreich angenommen wurde. (Dass das der Fall ist, scheint nicht einmal Kaufland selbst zu bestreiten: „bei der durchschnittlichen Größe der Bestellungen hatte Kaufland in Berlin die eigenen Erwartungen übertroffen“, schreibt die „Heilbronner Stimme“.)
Natürlich hätte es Mittel und Wege gegeben, um diesen Service so nachzujustieren, dass Kosten und Verluste verringert werden – indem alternative Liefermodelle getestet werden, um Kunden enger an sich zu binden zum Beispiel. Oder indem man plausibel erklärt, warum es künftig mehr kosten wird, gewisse Versprechen einzuhalten. (Das hat Kaufland nicht einmal versucht.)
Nur eines geht nicht: Die Kunden vor den Kopf zu stoßen, indem man ihnen erklärt, der vertraut gewordene Dienst sei ein einziger Irrtum gewesen, und gleichzeitig zu glauben, dass sich diese Kunden nächsten Samstag wieder im Großflächendiscounter in die meterlange Kassenschlange stellen.
Weil es kaum einen effektiveren Weg gibt, um zu signalisieren: Auf dich legen wir keinen Wert.
Wir wollen nicht mehr Schlange stehen
Es mag richtig sein, dass die Lieferung online bestellter Lebensmittel nach wie vor eine enorme wirtschaftliche Herausforderung für viele klassische Handelsunternehmen darstellt. Aber die Kunden haben gesehen, dass es funktioniert, dass es ihnen den Einkaufsalltag erleichtert – und, ja, dass sie dafür womöglich zusätzlich bezahlen müssen. So wie früher übrigens, als es beim Kaufmann um die Ecke noch völlig selbstverständlich war, seine Einkäufe nicht selbst heimtragen zu müssen.
Richtig ist auch, dass das für einen Großteil der Kunden, die vor allem preisbewusst einkaufen, nicht relevant ist. Das scheint die Zielgruppe zu sein, auf die sich Lidl und Kaufland künftig (wieder) konzentrieren wollen.
Das bedeutet aber auch, in Kauf zu nehmen, alle anderen mit Kusshand zur Konkurrenz zu schicken. (Wahrscheinlich ist das Dankesschreiben von Amazon schon längst unterwegs in Richtung Neckarsulm.)
In der Vorstandsetage der Schwarz-Gruppe scheint man fest daran zu glauben, ausschließlich dort investieren zu können, wo bislang schon die eigenen Stärken lagen: im stationären Geschäft. Das ist geradezu fatal kurzsichtig, wie sich in den vergangenen Monaten mehrfach gezeigt hat:
- Als bei Kaufland der Entschluss getroffen wurde, die Markenvielfalt in den Läden auszudünnen, um dadurch Prozesse zu optimieren und Kosten zu sparen, waren die Kunden sauer (siehe z.B. Kommentare unter diesem Blog-Text) und gingen lieber zur Konkurrenz. Kaufland machte die Änderungen zum größten Teil rückgängig, Inzwischen stehen viele zunächst gestrichene Marken wieder im Regal.
- Der (kostspielige) Start von Lidl in den USA verläuft bisher eher holprig: Viele Kunden können offensichtlich wenig mit der Sortimentsaufteilung des deutschen Discounts anfangen; das Angebot in den Läden scheint nur zum Teil ihren Erwartungen zu entsprechen. Entgegen ursprünglicher Aussagen des Managements liefert Lidl in Kooperation mit dem Partner Shipt seine Lebensmittel inzwischen auch nachhause.
Ein unumkehrbarer Entschluss
In beiden Fällen scheint einer der größten Lebensmittelhändler der Welt die Bedürfnisse seiner Kundschaft grundlegend falsch eingeschätzt zu haben – ausgerechnet im stationären Geschäft, mit dem sich der Konzern seit Jahrzehnten auszukennen glaubt.
Natürlich kann man entscheiden, sich dieses Scheitern nicht auch noch online zumuten zu wollen. Wenn man im Jahr 2017 tatsächlich der Ansicht ist, dass es sich dabei um ein Geschäftsfeld handelt, das mit dem eigenen auch in Zukunft rein gar nichts zu tun haben wird.
Fakt ist: Handel verändert sich, er bleibt nicht stehen. Weil sich die Bedürfnisse der Kunden verändern. Unternehmen, die darauf zu reagieren wissen, haben die Chance, an die Spitze aufzusteigen. So wie es der Schwarz-Gruppe gelungen ist – bis sie sich dagegen entscheiden hat.
Es ist nicht ganz klar, ob den Managern in Neckarsulm die Unumkehrbarkeit ihres Nicht-Handelns bewusst ist. Falls sich in zwei, drei Jahren herausstellen sollte, dass es doch nützlich oder sogar notwendig wäre, Kunden anzusprechen, die sich daran gewöhnt haben, einen Großteil ihrer Einkäufe übers Netz zu erledigen, dürfte ein Neueinstieg in den Markt kaum glaubhaft zu vermitteln sein.
Auch weil niemand, der bei Sinn und Verstand ist (und googeln kann), dann Lust haben wird, sich dafür bei einem Unternehmen anstellen zu lassen, dass schon mal über Monate um junge, kreative, online-affine Mitarbeiter warb, um neue Geschäftsfelder zu erschließen – und ihnen dann mitten im laufenden Prozess eröffnet hat, dass sie nicht mehr gebraucht werden und gehen können.
Der Innovation den Kopf abgeschlagen
Lidl hat in diesem Jahr nicht nur seinen Geschäftsführer, seinen E-Commerce-Chef und (gerade erst) seinen Marketingchef verloren – sondern mit seinem neuen alten Kurs auch ein unübersehbares Zeichen an potenzielle Fachkräfte gesendet, sich von einer derartigen Unberechenbarkeit besser fern zu halten.
In Neckarsulm hat man sich dagegen entschieden, mit Augenmaß zu experimentieren, sondern der unternehmensinternen Innovation gleich direkt den Kopf abgeschlagen.
In zehn Jahren wird das rückblickend vielleicht der Punkt sein, von dem sich sagen lässt, dass das der Anfang vom Niedergang des einstmals größten europäischen Lebensmittelhändlers war. Weil der versucht hat, ein Handelsmodell zu mumifizieren, das sich nicht ändern darf, weil es sich nicht ändern soll. Und seinen Kunden dasselbe vorschreiben wollte.
Fotos: Supermarktblog