Was ist Deliveroo?
Auf den ersten Blick: ein Lieferservice, der Leuten, die sich daheim auf der Couch festgetackert haben, das Essen aus ihrem Lieblingsrestaurant nachhause bringt, damit sie sich nicht selbst in die Küche stellen müssen.
Muss ich mich damit überhaupt beschäftigen? Ich hab echt anderes zu tun, mein Supermarkt läuft auch nicht von alleine.
Sie müssen gar nichts – falls Sie sich nicht dafür interessieren, warum künftig weniger Kunden zum Einkaufen in Ihren Laden kommen.
Schon gut, schon gut: Was genau ist Deliveroo?
Ein Gastronomie- und Supermarkt-Schreck, der vor allem im Lebensmitteleinzelhandel derzeit massiv unterschätzt wird, obwohl er dafür sorgt, Kundenverhalten nachhaltig zu verändern.
Deliveroo wurde erst vor fünf Jahren – im Februar 2013 – vom (Ex-)Investment-Banker Will Shu in London gegründet. Heute ist das Unternehmen bereits mit 25.000 Restaurant-Partnern in rund 200 Städten bzw. einem Dutzend Ländern aktiv: Australien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Hong Kong, Italien, Irland, den Niederlanden, Singapur, Spanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. [Deliveroo, Reuters]
Anders als viele Wettbewerber begnügt sich Deliveroo aber nicht damit, das bereits vorhandene gastronomische Angebot zu digitalisieren, indem es Restaurants eine zentrale Online-Plattform zur Verfügung stellt, auf der sich Hungrige ihr Lieblingsessen aussuchen können, und den Partnern für die Vermittlung eine Kommission in Rechnung stellt.
Zum einen erschließt Deliveroo das Lieferservice-Prinzip für Restaurants, die sonst gar keinen eigenen Lieferservice anböten. Zum anderen hat sich in den vergangenen Monaten immer stärker herauskristallisiert, dass Deliveroo die datengetriebene Analyse der Essgewohnheiten seiner Kunden nutzt, um selbst gastronomische Angebote anzustoßen, eine wachsende Nachfrage zu bedienen und darüber den Markt für Lieferessen zu erweitern.
Also doch kein klassischer Lieferservice?
Sagen wir: ein Technik-Unternehmen mit angeschlossener Lieferlogistik. Den Kunden ist es natürlich in erster Linie wichtig, dass ihnen die Deliveroo-„Rider“ das bestellte Essen an die Haustür bringen. (Im Idealfall ohne dass die Suppe während des Transports zur Hälfte in die Lieferbox geschwappt ist.)
Für Deliveroo geht es darum, Geld aus einem Markt zu pressen, in dem die Gewinnspannen schon jetzt eher überschaubar sind. Das kann nur mit größtmöglicher Effizienz funktionieren – oder indem man den Markt deutlich vergrößert. Deliveroo versucht beides.
Wie geht das?
Zum Beispiel durch die Verkürzung von Lieferzeiten, um mehr Bestellungen pro Stunde auszufahren. Genau das ist dem Unternehmen (nach eigenen Angaben) im vergangenen Jahr gelungen. Der selbst programmierte Algorithmus „Frank“, kalkuliert im Hintergrund die zu erwartende Nachfrage bzw. die Zubereitungszeit der Speisen und errechnet die beste Verteilung der Lieferessen auf die aktiven „Rider“. Dadurch sei es gelungen, die durchschnittliche Lieferzeit um 20 Prozent (in Großbritannien) bzw. 12 Prozent (in Deutschland) zu reduzieren. [Business Insider, Café-Future.net]
Wer sagt denn überhaupt, dass in Zukunft mehr Bestellungen ausgeliefert werden als jetzt?
Zum Beispiel die Marktforscher der NPD Group, denen zufolge die Zahl der (digital bestellten) Lieferessen in den vergangenen Jahren massiv gestiegen ist. In Großbritannien wurden 2016 etwa 3,6 Milliarden Pfund für Lieferessen ausgegeben, 6 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Vergleich zum Jahr 2008 sei der Markt um 50 Prozent gewachsen. Bis 2020 hält NPD eine ähnliche Wachstumsrate für realistisch: „[E]ating in is becoming the new eating out.“ Vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 34 Jahren gewöhnten sich an, regelmäßig Restaurant-Mahlzeiten nachhause zu ordern. [NPD Group (1), NPD Group (2)]
Das muss ja nicht überall so kommen.
Richtig. Aber Deliveroo unternimmt ziemlich viel, um dafür zu sorgen, dass doch. Die auf der eigenen Plattform generierten Daten sind dafür zentral – und Grundlage, um dem Deliveroo-System maschinelles Lernen beizubringen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur das bisherige Appetitverhalten der Nutzer genau analysieren. Es können auch Schlüsse daraus gezogen werden, um dieses Verhalten in der Zukunft zu beeinflussen.
Schon jetzt empfiehlt das System den eigenen Restaurant-Partnern z.B. Gerichte, die sich zusätzlich anzubieten lohnen würden, und weiß, welchen Preis Kunden dafür zu zahlen bereit wären.
Seit dem vergangenen Jahr nutzt Deliveroo diese Erkenntnisse auch, um Standorte für spezielle Lieferküchen an Orten aufzubauen, deren Lieferpotenzial bislang noch nicht vollständig erschlossen ist, etwa weil es in der Nähe an klassischen Restaurants fehlt, die für die Zubereitung sorgen könnten. Wie „Deliveroo Editions“ genau funktioniert, steht hier im Blog. (Mehr dazu im Laufe der Woche.)
Die Idee dahinter ist, etablierte Restaurants überall dort Filialen eröffnen zu lassen, „wo sie sonst wahrscheinlich nicht hingehen würden“, erklärt Deliveroo-Vice-President Rohan Pradhan. [Bloomberg]
Wer bezahlt den Spaß eigentlich?
Investoren wie T. Rowe Price Associates und Fidelity Management & Research Company, die bereits Geld in Facebook, AirBnB and Tesla gesteckt haben und im vergangenen September für eine neue Finanzierungsrunde 480 Millionen US-Dollar locker machten. [TechCrunch]
Das ist nur geraten, aber: Verdienen wird Deliveroo vermutlich – nichts?
2016 lag der Umsatz von Deliveroo bei 129 Millionen Pfund (rund 150 Millionen Euro), ein Plus von 611 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 129 Millionen Pfund betrug im selben Jahr auch der Verlust, der sich vor allem durch die schnelle Expansion in 84 (vierundachtzig!) neue Städte erklärt. Das größere Problem ist, dass die Bruttomarge (das, was Deliveroo von jedem Pfund Umsatz behalten kann) momentan mit 0,7 Prozent sehr, sehr niedrig ist. [Business Insider, Gründerszene]
Dann erledigt sich das doch bald von selbst?
Ganz so einfach ist es nicht. Deliveroo schafft es, eine steigende Nachfrage zu bedienen, die das Unternehmen zum Teil selbst generiert, und die der Bequemlichkeit vieler – vor allem: junger – Kunden entgegenkommt. Wenn sich dadurch die Budgets vieler Haushalte nachhaltig verschieben, hat das nicht nur Einfluss auf die Ausgeh-Gastronomie, sondern auch auf klassische Lebensmittelhändler.
Anders formuliert: Aldi kann – wie auf dem Foto oben – noch so intensiv für seine rosarote „Frische-Vielfalt“ werben: Es hilft nix, wenn die Kunden gar nicht mehr in den Laden kommen, weil sie daneben von Deliveroo angestiftet lieber „wie ein Boss“ „leckere Burger ins Büro“ bestellen. Die Plakate sehen sich jetzt schon zum Verwechseln ähnlich. Und auch Kunden dürften zunehmend immer weniger zwischen Essen einkaufen und Essen bestellen unterscheiden, selbst wenn sich der Lebensmitteleinzelhandel das (wie so vieles) gerade nicht vorstellen kann.
Der Kampf um Nicht-Kocher und Draußenesser ist hier im Blog ausführlich beschrieben.
Werbung alleine sorgt aber noch nicht für ein dauerhaft verändertes Kundenverhalten.
Deshalb schaut sich Deliveroo erfolgreiche Maßnahmen anderer E-Commerce-Pioniere ab und schmiedet Allianzen, um weiter zu wachsen.
In Großbritannien können Vielbesteller seit dem vergangenen Jahr eine Art Liefer-Flatrate abschließen („Deliveroo Plus“), Wer 8 Pfund im Monat zahlt, kriegt anschließend sämtliche bestellten Essen ohne Zusatzkosten nachhause oder an den Arbeitsplatz gebracht. Was den Anreiz vergrößert, noch öfter zu bestellen. [Engadget]
Zudem hat Deliveroo eine Allianz mit dem Bewertungsportal TripAdvisor geschlossen, wo Kunden nicht nur Hotels, sondern auch Restaurants empfehlen können. TripAdvisor blendet die Option dazu ein, sich Essen aus besagtem Restaurant ins eigene Wohnzimmer – oder auf Reisen ins Hotel – liefern zu lassen. [BBC, Skift]
Das klingt alles ein bisschen nach der Strategie von … Amazon.
Ja, zu diesem Schluss könnte man durchaus kommen.
Ähnlich wie bei Amazon (und seinen Partnerhändlern) wird auch die Deliveroo-Plattform für Gastronomen immer wichtiger: Wer dort nicht präsent ist, verschenkt Umsatzpotenzial und überlässt mögliche Kunden der Konkurrenz. Die Abhängigkeit steigt, wenn Deliveroo seine Kooperationspartner mit Daten über das eigene Geschäft versorgen kann, die sich zur Umsatzsteigerung eignen, unf die benötigte Infrastruktur zur Verfügung stellt, um mit einer Lieferküche in einen bislang nicht versorgten Stadtteil zu expandieren.
Kein Haken?
Doch, doch! So clever Deliveroo auch berechnet, was Kunden zu welchem bestimmten Zeitpunkt an welchem Ort essen wollen: Es braucht immer noch jemanden, der ihnen die Mahlzeit dann auch vorbeibringt. Seine dafür engagierten „Rider“ stellt Deliveroo allerdings nicht fest an, sondern führt sie als selbstständige Unternehmer und spart dadurch bspw. die Zahlung von Krankengeld. Im vergangenen Jahr haben die Arbeitsregulierer des britischen Central Arbitration Committee (CAC) dieses Verfahren als zulässig bewertet, nachdem Deliveroo die Verträge angepasst hatte. [The Guardian]
Dennoch beschweren sich Fahrer zunehmend über schlechte Arbeitsbedingungen und mangelnde Absicherung. Sie organisieren sich und streiken wie zuletzt in Hong Kong, Belgien und den Niederlanden, sodass Bestellungen nicht angenommen bzw. ausgefahren werden können. [Hong Kong Free Press, The Telegraph]
Hong Kong riders for takeaway app Deliveroo go on strike over new work arrangements https://t.co/fouUAUtxeW @deliveroo pic.twitter.com/6k0qWmmX5v
— Hong Kong Free Press (@HongKongFP) January 23, 2018
Klingt nach einer ziemlichen Bredouille.
Allerdings. Wenn Deliveroo dauerhaft erfolgreich sein will, muss das Unternehmen eine Lösung finden, die die „Rider“ zufrieden stellt, aber nicht die ohnehin schon mickrige Marge auffrisst. Dafür braucht’s entweder: Zauberei. Oder „Frank“ hat sich irgendwann selbst so schlau gerechnet, dass ihm schon was einfällt.
Im Moment vertrauen zumindest die Investoren offensichtlich auf letzteres.
Kann ich jetzt wieder zurück in meinen Laden?
Aber natürlich! Kurze Rückfrage nur: Ich hab von der ganzen Erzählerei ein bisschen Hunger gekriegt. Bestellen wir was?
Fotos: Deliveroo (Titel), Supermarktblog
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