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SB-Kassen zwischen Kundensegen und Händlerfluch: Wie lässt sich Diebstahl beim Selbstscannen vermeiden?

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Für Kaufleute im Lebensmitteleinzelhandel lautet eines der am hässlichsten klingenden Worte der deutschen Sprache: Inventurdifferenz. Weil das bedeutet, dass sich Waren, die eigentlich noch im Regal oder im Lager stehen müssten, in Luft aufgelöst und in den allermeisten Fällen keine Umsätze dagelassen haben.

Oftmals handelt es sich dabei nicht um eine unerklärbare Form plötzlicher Dematerialisierung, sondern ganz mondän: um Diebstahl. Oder wie sich Frank Horst, Sicherheitsexperte des EHI Retail Institute neulich hat zitieren lassen:

„Im Handel wird nach wie vor gestohlen, was nicht niet- und nagelfest ist“.

Einmal im Jahr fragt das EHI Retail Institute deutsche Handelsunternehmen, wieviel Schwund sie übers Jahr feststellen, und sortiert das den jeweiligen Kausalitäten zu. Mal werden Preise falsch ausgezeichnet, ein andermal gehen Produkte kaputt, Lebensmittel verderben; die Hauptursache der Differenzen ist aber immer noch, dass Kund:innen oder Mitarbeiter:innen Waren entwenden ohne dafür zu bezahlen. Im Wert von 3,75 Milliarden Euro, wie das EHI bilanziert. Viele Diebstähle bleiben unentdeckt.


Auch deshalb zieren sich Handelsketten wohl nach wie vor, neue Technologien in ihren Läden einzusetzen, die dies vermeintlich begünstigen könnten – zum Beispiel: SB-Kassen.

Ups, verscannt

Seit jeher stehen Geräte, an denen Kund:innen ihren Einkauf selbst scannen und bezahlen können, unter dem Verdacht, ehrlichkeitseinschränkend zu wirken. Weil die Versuchung groß ist, Artikel falsch abzurechnen oder gar nicht erst zu scannen, bevor sie in die Tasche gepackt werden. Deshalb sind 80 Prozent der im deutschen Lebensmitteleinzelhandel eingesetzten SB-Kassen mit (nervigen) Gewichtskontrollen ausgestattet, hat das EHI in seiner Markterhebung für 2019 festgestellt.

Allen Bedenken zum Trotz wächst die Zahl der Geschäfte, die den „Self-Checkout“ anbieten – langsam, ganz langsam: In rund 600 deutschen Supermärkten und Discountern ist das bislang möglich; insgesamt wurden laut EHI 2.540 SB-Kassen im deutschen LEH aufgestellt (Stand: August 2019). Im Vergleich zu den 235.000 regulären Kassen mit Bedienung ist das weiterhin sehr übersichtlich. Die SB-Kassen würden vor allem „als zusätzlicher Kundenservice verstanden, um primär Wartezeiten zu verkürzen“.

Das mag – theoretisch – auch der Grund gewesen sein, aus dem sich Netto (ohne Hund) vor über zwei Jahren entschlossen hat, die ersten Filialen mit der Technologie auszustatten (siehe Supermarktblog).

„Seit Beginn der Pilotphase werden diese Selbstbedienungskassen mittlerweile in rund 30 Städten eingesetzt“,

erklärt eine Precherin von Netto (ohne Hund) auf Supermarktblog-Anfrage. Das Ziel: den Bezahlvorgang für kleinere Einkäufe zu beschleunigen und Kund:innen das Anstehen zu ersparen.

„Wartezeiten an unseren regulären Kassen sind trotz maximaler Kassenbesetzung durch unsere Filialmitarbeiter in Stoßzeiten gegebenenfalls nie gänzlich zu vermeiden und die Expresskassen somit eine serviceorientierte Bezahlalternative.“

Innovativ, aber nicht zu Ende gedacht?

Das war für den deutschen Discount verhältnismäßig innovativ – aber offensichtlich nicht ganz zu Ende gedacht. Nach Supermarktblog-Informationen fielen die Ergebnisse der Testphase weniger ermutigend aus als man sich das bei Netto (ohne Hund) erhofft hatte. In manchen Filialen mit Self-Checkout-Kassen (SCO) seien die Inventuren nachher sogar bis zu 50 Prozent schlechter ausgefallen als zuvor, berichtet ein Mitarbeiter.

Dass Netto (ohne Hund) das Experiment daraufhin nicht gestoppt habe, liege auch daran, dass die schlechten Ergebnisse der Tests nie richtig an den entsprechenden Stellen angekommen seien – und dass vorher zu viele SB-Kassen bestellt wurden, die dann in den Filialen untergebracht werden mussten. „Ob Bedarf besteht oder nicht, spielt dabei keine Rolle“, sagt der Mitarbeiter gegenüber Supermarktblog.com. „Auch ob es sich ohnehin schon um eine diebstahlgefährdete Filiale handelt, wird ignoriert.“

Netto (ohne Hund) widerspricht auf Anfrage. Eine Sprecherin erklärt, man könne „keine Diebstahlquoten bestätigen“ (also vermutlich: keine erhöhten), und sagt:

„Vor dem Hintergrund der positiven Kundenresonanz ist der Einsatz weiterer Expresskassen geplant.“

Maschinen sind leichter zu beklauen

Beim Mitbewerber Rewe, der SB-Kassen schon vor einigen Jahren testete, heißt es ebenfalls:

„Tatsächlich können wir in den mit SCO-Kassen ausgerüsteten REWE Märkten keine erhöhte Diebstahlquote oder ‚Fraud-Versuche‘ feststellen.“

Ganz aus der Luft gegriffen ist eine Diebstahlgefahr an den Selbstbedienkassen aber wohl nicht. Zu diesem Schluss kommt zumindest eine Studie, die von der ECR Community Shrinkage and On-Shelf Availability Group und dem Kassenhersteller NCR in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse im vergangenen Jahr publiziert wurden (Adrian Beck: „Self-Checkout in Retail: Measuring the Loss“, PDF). Dafür wurden u.a. 13 Handels- und zwei Technologieunternehmen zu ihren Erfahrungen befragt. Die Autoren belegen, dass Läden, die SB-Kassen anbieten, tatsächlich stärker von Warenschwund betroffen sind als der Durchschnitt.

Das kann auch daran liegen, dass Artikel an der SB-Kasse falsch abgewogen oder unabsichtlich zu scannen vergessen werden; aber der Verdacht, dass das absichtliche Nichtscannen einen großen Teil ausmacht, liegt nahe.

Tatsächlich geht die SB-Kassen-Forschung (ja-ha!) davon aus, dass Kund:innen, die üblicherweise nicht stehlen würden, beim Selbstabkassieren leichter dazu verführt würden; einerseits, weil sie sich unbeobachteter fühlen, und andererseits, weil Menschen tendenziell eher bereit seien, Maschinen zu bestehlen als Menschen, wie Kate Letheren and Paula Dootson herausgefunden haben.

Augenkontakt senkt die Diebstahlquote

Die ECR/NCR-Studie von Beck beschäftigt sich wiederum mit Lösungen, wie sich dieser Effekt eindämmen lässt. Am besten: mit einer separaten Kassenaufsicht, die in zentraler und für alle Kund:innen gut sichtbaren Position nicht nur als Hilfe bei Problemen einspringen kann, sondern gleichzeitig eine Erinnerung daran ist, dass auch an der SB-Kasse jemand das Geschehen im Blick hat.

Um die Diebstahlwahrscheinlichkeit zu senken, reiche es oft schon aus, Augenkontakt mit den Kund:innen aufzunehmen und kurz mit ihnen zu interagieren. Gleichzeitig dürfe für ehrliche Kund:innen keinesfalls der Eindruck einer vorverurteilenden Kontrolle erweckt werden. Deshalb müsse die Interaktion konsequent Service-fokussiert geschehen, empfehlen die Autoren.

(Jetzt wissen Sie auch, warum Sie im Laden manchmal von einer Mitarbeiterin bzw. einem Mitarbeiter freundlich an die nächste freiwerdende SB-Kasse gelotst werden.)

Selbst wenn ein potenzieller Diebstahl festgestellt und eingegriffen werde, solle dies möglichst wenig konfrontativ geschehen, um die Kundin oder den Kunden nicht bloßzustellen („non-accusational techniques“). Ich fass das mal unwissenschaftlich zusammen: „Haltet den Dieb!“ zu rufen, kommt an der SB-Kasse nicht so gut an. Besser ist’s, höflich zu sagen: Da scheint was schief gelaufen zu sein beim Scannen, darf ich Ihnen helfen? Die Studie empfiehlt ganz konkret:

„Verwandeln Sie einen möglichen Diebstahl in ein Coaching.“

Keine Aufsicht? Keine gute Idee

Die Rolle der Aufsicht bestehe darin, Kund:innen konsequent daran zu erinnern, „ehrlich und präzise“ zu sein. Und wenn das tatsächlich eine „fundamentale“ Voraussetzung dafür sein sollte, dass das System SB-Kasse auch für Händler erfolgreich laufen kann, dann macht Netto (ohne Hund) leider so ziemlich alles falsch.

In den Filialen ist bislang nämlich keinerlei separate Aufsicht vorgesehen – im Gegenteil: Das Filialpersonal soll die Geräte zusätzlich zu seiner bisherigen Arbeit mitbetreuen, wie Netto (ohne Hund) bestätigt:

„Bei Fragen können sich Kunden an Filial-Mitarbeiter wenden. Ein konkreter Einsatz von Mitarbeitern an den Selbstbedienungskassen ist aktuell nicht geplant.“

Das ist angesichts der eigentlich zu begrüßenden Innovationsbereitschaft und den Investitionen in neue Technik fast schon tragisch, weil es wirklich niemandem hilft:

  • Mitarbeiter:innen haben zusätzlich Stress, weil sie im Zweifel die einzige geöffnete reguläre Kasse schließen müssen, um Fehlermeldungen an den SB-Kassen nebendran zu beheben;
  • Kund:innen ärgern sich, weil sich dadurch Wartezeiten sogar verlängern können, und der wichtigste Effekt der Technologie – Zeitersparnis! – verpufft (siehe Supermarktblog);
  • und Netto (ohne Hund) zahlt schlimmstenfalls auch noch drauf, weil man sich die effektivste Form der Diebstahlvermeidung spart.

Aldi und Lidl testen eigene Varianten

Heißt das, dass SB-Kassen im Discounter, wo tendenziell sehr viel weniger Personal im Einsatz ist als im klassischen Supermarkt, gar nicht funktionieren können? Dagegen spricht, dass sich immer mehr Handelsunternehmen dazu entschließen, die Technik zumindest zu testen – im Ausland jedenfalls.

In Großbritannien, wo Self-Checkouts schon seit Jahren als Standard etabliert sind, hat sich in diesem Jahr selbst Aldi getraut und nach einem Test in Glascote, Staffordshire, SB-Kassen inzwischen auch andernorts in Läden gebaut. Wie die Reaktionen der Kund:innen darauf ausfallen und wieviele Märkte die Geräte erhalten sollen, verrät Aldi UK auf Nachfrage leider nicht.

Konkurrent Lidl ist schon ein paar Schritte weiter und hat zahlreiche britische Filialen mit SB-Kassen ausgestattet, auch um auf kleineren Innenstadtflächen Platz zu sparen (siehe Supermarktblog).

Seit Anfang Oktober dürfen sich Lidl-Kund:innen außerdem in der Schweiz selbst abkassieren: in der Filiale in Weinfelden, wo drei Selbstbedienkassen aufgestellt wurden, an denen ausschließlich bargeldlos bezahlt werden kann – „da gerade in Schweizer Ballungszentren (wo die Kassen nach erfolgreichem Test zum Einsatz kommen würden) vermehrt auf das Bezahlen mit Karte gesetzt wird“, heißt es bei Lidl Schweiz gegenüber Supermarktblog.com. Außerdem bestätigt das Unternehmen:

„Für die Betreuung des Self Checkout Bereichs wird grundsätzlich ein/e Filialmitarbeitende/r eingesetzt. Selbstverständlich stehen jedoch alle unsere Filialmitarbeitenden für Fragen zur Verfügung.“


Foto: obs/Lidl Schweiz

Geht also doch? Oder: nur in der Schweiz, wo die Uhren (und Geldbörsen) ohnehin anders ticken? Unter dem Supermarktblog-SB-Kassen-Text vom April kommentierte Leser Dirk:

„Ich war gerade an der Algarve im Urlaub und habe dort bei Lidl sechs Selbstscan Kassen entdeckt. Die wurden von einer Mitarbeiterin kontrolliert und konnten nur mit der rollbaren Einkaufskorb genutzt werden. Die Nutzung mit dem normalen Wagen war verboten. Dies hat den Andrang deutlich entzerrt.“

Mehr Aufwand, aber mehr Umsatz?

Eine solche Einschränkung dürfte auch dabei helfen, Schwund zu vermeiden – weil die Zahl der selbstscanbaren Artikel überschaubar bleibt. Aber lohnt sich der ganze Aufwand für Handelsunternehmen überhaupt, wenn so viele Kontrollmechanismen installiert und beachtet werden müssen?

Im Gespräch mit der „Lebensmittel Zeitung“ hat Edeka-Kaufmann Falk Paschmann aus Düsseldorf eine interessante Rechnung aufgemacht. Nach der Installation der SB-Geräte habe sich der Umsatz im Markt deutlich erhöht,

„weil wir keine Warteschlangen mehr [haben], nicht mal samstags, nicht mal vor Weihnachten. Die gefühlte Wartezeit hat sich verkürzt. Früher hatte ich fünf Mitarbeiter an fünf Kassen sitzen. Jetzt habe ich mit den gleichen Leuten zwölf Kassen geöffnet. Und mit denen mache ich auch noch mehr Umsatz.“

Dass an den SB-Kassen mehr gestohlen wird, will Paschmann so pauschal nicht sagen: „Wer klauen will, klaut vorher schon im Laden. Der wartet nicht darauf, beim Selfscanning auf dem Präsentierteller zu sein.“ (Was eine funktionierende Aufsicht bzw. Kontrolle voraussetzt.) Aber natürlich gebe es immer Kund:innen, die „vergessen“ würden, Artikel zu scannen. Pro Woche würden zwei Diebe ertappt. (Wobei natürlich interessanter wäre: wieviele nicht.)

Kassenaufsicht will gelernt sein

Die für die ECR/NCR-Studie befragten Handelsunternehmen sind sich weitgehend einig, dass es eine Grenze gibt, bis zu der eine SB-Kassenaufsicht wirksam ist.

  • Fünf bis sechs Geräte werden unisono als absolutes Maximum genannt, die man einer Mitarbeiterin bzw. einem Mitarbeiter zur Parallelaufsicht zumuten könne.
  • Und das auch nur bei Angestellten, die schon Erfahrung damit haben, welches Verhalten beim Selberscannen auf einen potenziellen Diebstahl hinweisen könnte.
  • Eines der befragten Unternehmen hat sogar ein Traineeprogramm erarbeitet, in dem SB-Kassenpersonal explizit darin geschult wird, wie es reagieren soll, wenn gleichzeitig an mehreren Kassen „roter Alarm“ herrscht und welcher Kund:innen-Typ dann zuerst geholfen bekommt („mum with screaming kid versus bloke with a beer“).

Kurz gesagt: SB-Kassenbetreuung müsste mindestens als Vorstufe des Psychologiestudiums anerkennt werden, zumal dabei nicht nur zählt, das technische System im Griff zu haben – sondern auch, ob man die Körpersprache der Kund:innen richtig lesen kann.

Inzwischen gibt es zahlreiche weitere Möglichkeiten, wie die Technik selbst dabei helfen kann, die Diebstahlquote an der SB-Kasse möglichst niedrig zu halten. Darum geht’s dann im zweiten Teil des Blog-Proseminars zum Thema Self-Checkout – mit Kaufland, Rewe & Coop.

Fotos: Supermarktblog"

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Der Beitrag SB-Kassen zwischen Kundensegen und Händlerfluch: Wie lässt sich Diebstahl beim Selbstscannen vermeiden? erschien zuerst auf Supermarktblog.


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